|
ANPASSUNG UND
ANDERSARTIGKEIT
|
110
|
_______________________________________________________________________________________________________________________
|
Anpassung und
Andersartigkeit
. |
|
Die
Sophienschule und ihre jüdischen Schülerinnen während der
Weimarer Republik und des
Naziregimes |
Die
Sophienschule, das war eine Judenschule!“ Das sagte mir eine Zeitzeugin,
deren Vater sie mit der Begründung „da sind mir zu viele Juden“ 1932
von der Sophienschule nahm. In einem Brief an die Stadtverwaltung schrieb
der Direktor der Sophienschule, Dr. Schmidt, zwanzig Jahre früher,
am 5. Mai 1911: „Schließlich kann ich nicht verhehlen, daß
eine gewisse Erregung besonders des vornehmen Elternpublikums unserer Schule
dadurch entstanden ist, daß unsere jüdischen Schülerinnen
das Gerücht verbreitet haben, die Sophienschule solle ihre jüdische
Religionsschule werden, in welcher auch Jüdinnen der anderen höheren
Mädchenschulen gehen müßten.“
Was ist mit „Judenschule“
gemeint? War es tatsächlich so, dass besonders viele jüdische
Schülerinnen die Sophienschule besuchten? Und wenn dies so war, war
die Schule offen für die Integration jüdischer Schülerinnen?
Was steckt hinter der Erregung des ,vornehmen Elternpublikums’ der Sophienschule?
Kurz, wie war das Verhältnis der Sophienschule zu ihren jüdischen
Schülerinnen in den ersten zwei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts, und
wie veränderte es sich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten? |
|
Relativ
hoher Anteil jüdischer Schülerinnen bis zum Beginn des Nationalsozialismus |
Die Anzahl der Schülerinnen
an der Sophienschule, die aus einem jüdischen Eltern-haus kamen, war
seit der Gründung der Schule und bis zum Beginn des nationalsozialistischen
Staatssystems im Verhältnis zu dem Anteil der jüdischen Einwohner
Hannovers relativ hoch. Von 1900 bis 1932 waren im Durchschnitt 21 Mädchen
im Lyzeum und 12 in der Studienanstalt jüdisch. Der Anteil der jüdischen
Schülerinnen in der Sophienschule lag im Durchschnitt für diesen
Zeitraum bei rund 8 Prozent, im Vergleich zu einem Anteil an der Gesamtbevölkerung
Hannovers von 1,3 Prozent (1925).
Es war jedoch nicht so, dass
die Sophienschule die meisten jüdischen Schülerinnen in Hannover
anzog, weder in der Gesamtzahl noch in Prozent. Die heute nicht mehr existierende
Schillerschule hatte einen noch größeren Anteil an jüdischen
Schülerinnen von 22 Prozent im 19. Jahrhundert und 16 Prozent zwischen
1924 und 1930. Die Studienanstalt des Oberlyzeums (die heutige Wilhelm-Raabe-Schule)
hatte eine ähnliche Anzahl an jüdischen Schülerinnen wie
die Studienanstalt der Sophienschule, nämlich 14 im Durchschnitt (1926
und 1932), die jedoch bei der Größe der Schule einen geringeren
Anteil der Schülerinnenschaft darstellten.
Diese beiden Schulen lagen
im Westen der Stadt. Die andere höhere Mädchenschule in der Oststadt,
das Ostlyzeum (aus dem die Ricarda-Huch- und die Käthe-Kollwitz-Schule
hervorgingen), wurde kaum von jüdischen Schülerinnen besucht.
Der Grund hierfür war
wohl, dass die Sophienschule eine städtische Schule war, während
das Ostlyzeum aus einer privaten höheren Töchterschule hervorging.
Städtische Schulen waren an die Vorgaben des Staates gebunden, die
die formelle und rechtliche Gleichstellung der Juden für den Schulalltag
als Prinzip vorgab. Private Mädchenschulen, die lange Zeit durch Elternunterstützung
getragen waren, richteten sich mehr nach den Wünschen der Eltern ihrer
Schülerinnen, und dies beinhaltete offensichtlich keine Integration
jüdischer Schülerinnen.
Die Sophienschule war also
die Schule, auf die die Mehrheit der bürgerlichen jüdischen Eltern
aus der Oststadt ihre Töchter schickten. Wie sah nun die Integration
der jüdischen Schülerinnen in der Sophienschule im Alltag aus?
. |
|
Gleiche
Rechte auf dem
Papier und Randexistenz
im Alltag |
Der
preußische Staat hatte seit Ende des 19. Jahrhunderts begonnen, gleiche
Rechte für jüdische Bürger als ein Prinzip des modernen
Staates anzuerkennen. Dies zeigte sich unter anderem in dem Erlass von
1875, der es erlaubte, dass an Preußens öffentlichen Schulen
jüdischer Religionsunterricht erteilt werden durfte, wenn genügend
Schüler oder Schülerinnen Interesse daran hatten. Seit 1904 fand
auf Drängen der jüdischen Gemeinde in Hannover Religionsunterricht
an den höheren Jungenschulen statt. 1911 bemühte sich die Synagogengemeinde,
diesen auch für Mädchenschulen einzuführen. Seit 1921 durften
jüdische Schüler und Schülerinnen wie auch Katholiken an
religiösen Festtagen der Schule fernbleiben. In der Theorie genossen
jüdische Schülerinnen also dieselben Minderheitenrechte wie Katholiken
im protestantischen Staat.
In der Praxis sah es jedoch
so aus, dass an Hannovers Mädchenschulen jüdischer Religionsunterricht
nie ein vollwertiger Bestandteil des Stundenplanes wurde, wie es die Synagogengemeinde
gewünscht hatte. Die Anzahl der jüdischen Schülerinnen pro
Jahrgang wurde als zu gering eingestuft, als dass individueller Religionsunterricht
hätte finanziert werden können. Es wurde also eine Zusammenlegung
der Schülerinnengruppen von der Sophienschule und der heutigen Wilhelm-Raabe-Schule
als mögliche Lösung angestrebt. Doch die Schulverwaltung der
Sophien-schule weigerte sich, den Stundenplan mit der Wilhelm-Raabe-Schule
zu koordinieren. Das Ergebnis war, dass jüdischer Religionsunterricht
außerhalb des normalen Stundenplanes am Ende des Schultages stattfand.
Eine Gleichstellung des jüdischen Religionsunterrichts auf dem Papier
bedeutete also noch nicht eine gleichwertige Behandlung im Schulalltag.
Warum war dies so? Die Kosten
eines speziellen Unterrichts für nur acht Prozent der Schülerinnenschaft
waren wohl ein Faktor, obwohl die Synagogengemeinde einen Großteil
der Kosten trug, diese also nicht allein die Stadtverwaltung hätte
aufbringen müssen.
. |
|
Andersartigkeit
war nicht erwünscht und wurde nicht geschätzt |
Die
Korrespondenz zwischen Dr. Schmidt, dem Direktor der Sophienschule, und
der Stadtverwaltung Hannover zu der geplanten Einführung jüdischen
Religionsunterrichts deutet jedoch auf zwei weitere Gründe hin. In
diesen Briefen, die im Frühjahr 1911 geschrieben wurden, geht Dr.
Schmidt davon aus, dass die jüdischen Schülerinnen und deren
Eltern keinen jüdischen Religionsunterricht wünschten. In seiner
Argumentation, warum die Anzahl der Schülerinnen an der Sophienschule
zu gering sei, um dort schuleigenen Religionsunterricht anzubieten, zählte
er die jüdischen Schülerinnen, die das 14. Lebensjahr erreicht
hatten, nicht mit. Dies begründete er damit, dass sie nach staatlichem
Recht nicht mehr verpflichtet
seien, an jüdischem
Religionsunterricht teilzunehmen. Er schrieb außerdem, dass er davon
ausgehe, dass einige der jüdischen Eltern keinen Religionsunterricht
für ihre Töchter
wünschten. Zweitens erwähnte er in dem oben genannten Zitat,
dass nichtjüdische Eltern, insbesondere das „vornehme Elternpublikum“,
die Einführung jüdischen Religionsunterrichts an der Sophienschule
nicht gutheißen würden und dadurch „das oben genannte Publikum
... immer mehr in gewisse höhere Privatschulen getrieben“ werde, „die
keinen jüdischen Religionsunterricht haben.“
Es scheint also, dass die
Schulleitung an der Sophienschule nicht bereit war, den jüdischen
Schülerinnen einen Sonderstatus einzuräumen, der aus den staatlich
garantierten Rechten wohl hätte abgeleitet werden können. Die
Schulleitung ging davon aus, dass es weder im Interesse der Juden noch
der Nichtjuden war, dass die jüdischen Mädchen sich öffentlich
mit ihrer Andersartigkeit als gleichwertiger Teil der Schulgemeinschaft
gegenüber artikulierten.
Diese Haltung, die in der
Korrespondenz der Schulleitung zutage tritt, scheint auch vorherrschend
in der Schule gewesen zu sein. Nichtjüdische Zeitzeuginnen sagten
mir, dass sie den Umgang zwischen Jüdinnen und Nichtjüdinnen
an der Sophienschule als „ganz selbstverständlich“ erlebt hätten,
und „so war die ganze
Atmosphäre der Schule.“
Eine genauere Betrachtung der Aussagen oben zeigt, dass dem „ganz selbstverständlichen
Umgang“ klare Spielregeln zu Grunde lagen, die sowohl von der Mehrheit
der Nichtjüdinnen und der Schulleitung als auch von den jüdischen
Schülerinnen in einem Zusammenspiel entwickelt wurden. Es scheint,
dass die Mehrheit der nichtjüdischen Mädchen ihre jüdischen
Mitschülerinnen nur dann wirklich als integrierten Teil der Schulgemeinschaft
akzeptierten, wenn diese sich vollständig anpassten und darauf verzichteten,
Andersartigkeit in irgendeiner Weise zur Schau zu stellen. Unter den jüdischen
Schülerinnen scheint ein Bewusst-sein dafür existiert zu haben,
was diese gesellschaftlichen Normen waren, und je nach Persönlichkeit
verinnerlichten die Jüdinnen diese Spielregeln und lebten danach oder
rebellierten dagegen. Weit verbreitet scheint auch die Haltung unter den
Jüdinnen gewesen zu sein, Nichtjuden den Zugang zu dem, was ihre Religion
beinhaltete, zu verwehren.
Für viele Jüdinnen
bezog sich die Anpassung vor allem darauf, so „normal“ und damit evangelisch
wie möglich zu erscheinen. Eine nichtjüdische Zeitzeugin erzählte,
dass die drei Töchter einer jüdischen Nachbarsfamilie „Weihnachten
mit in die Kirche“ gingen, „damit sie in der Schule etwas erzählen
konnten, dass sie keine Außenseiter sein sollten.“
Eine andere Zeitzeugin sagte,
dass sie von einer jüdischen Freundin zum Heiligen Abend eingeladen
wurde, „um mir zu zeigen, wie sie den Heiligen Abend feiern.“
Eine jüdische Frau
sagte mir: „Ich wußte, dass wir Juden waren, und das gefiel mir gar
nicht. Ich wäre lieber evangelisch gewesen, wie alle meine Freundinnen.
... Wir haben auch Weihnachten gefeiert. Das fand ich viel schöner.
Ich wollte nicht gerne etwas anderes sein als meine Freundinnen. ... Bei
uns war eben der Wunsch, das gleiche zu tun wie alle anderen.“ Sie besuchte
auch den evangelischen Religionsunterricht an der Sophienschule.
Keine der Nichtjüdinnen
war jedoch je bei einem jüdischen Feiertag eingeladen worden oder
wäre je mit in die Synagoge gegangen. Mir wurde gesagt: „Ob sie (die
Familie ihrer jüdischen Freundin) religiös waren, das weiß
ich nicht. Das wurde vor uns auch gar nicht so demonstriert; ... das war
eben so ohne unsere Gegenwart ... nur innerhalb ihrer Familie ohne Besuch.“
Eine andere nichtjüdische
Frau erzählte, dass sie einmal mit ihrer jüdischen Freundin,
die sie als enge Freundin bezeichnete, über ihre Unterschiede in der
religiösen Tradition sprechen konnte: „Ich bin mit (meiner Freundin)
in ein sehr ernstes Gespräch über Unterschiede im religiösen
Sinne gekommen, und das hat mir sehr viel Eindruck gemacht, dass ich mit
einer Klassenkameradin darüber reden konnte.“ Sie fügte hinzu:
„Es war eben für mich ein gutes Gefühl, dass man da plötzlich
darüber reden konnte, ihr seid so und wir so, und ihr denkt so und
wir denken so, wir halten den Sonntag als Feiertag und ihr den Samstag.
... Das war für mich ein Erlebnis, dass man da mal drüber sprechen
konnte.“ Unterschiede in der Religion wurden bis auf Momente, die als besondere
Ausnahmen empfunden wurden, nicht thematisiert.
Die Spielregeln, die darlegten,
was akzeptables Verhalten war, bezogen sich aber nicht nur auf Religion,
sie beinhalteten eine Reihe von Verhaltensweisen, die zur Selbstidentifikation
der Mehrheit der Schülerinnen an der Sophienschule gehörten,
wie Lebensstandard und Wertvorstellungen der Eltern. Eine Zeitzeugin erklärte
zur Beliebtheit von Jüdinnen mit Bezug auf deren Verhalten und die
soziale Schicht: „In der Klasse über mir waren vier Jüdinnen
... und die waren nicht so beliebt. Das waren so richtig reicher Leute
Kinder. Jedenfalls führten die das große Wort in der Klasse;
... da kamen die reichen Jüdinnen natürlich nicht so gut an.“
Über ein anderes Mädchen
wurde gesagt, dass sie ein „ziemlich fremdartiges Geschöpf“ war, „irgendwie
ein bewundernswertes kleines Mädchen, ... das den anderen Kindern
doch wohl recht fremd“ war, vor allem weil sie „intellektuellen Mut“ hatte,
da sie als 10-Jährige die Existenz Gottes anzweifelte.
Die ältere Schwester
des oben genannten Mädchens schrieb in ihren Erinnerungen: „Als Heranwachsende
waren mir die unterschiedlichen Werte zwischen Schule und Zuhause sehr
bewußt: autoritär und Zensur im Klassenzimmer, Freiheit zu ergründen
und anzuzweifeln am Eßtisch. Es war einfach, eine Entscheidung zu
treffen, aber viel schwerer, nach dieser Entscheidung zu leben und die
Vorgaben des Systems zu respektieren. Ich beschloß, das System zu
bekämpfen, was offensichtlich ein verlorener Kampf war.“
Die gleichen Rechte, die
der Kaiserstaat und die Weimarer Republik den jüdischen Mädchen
zusprach, hatten also nicht zur Folge, dass Jüdinnen in der Schulgemein-schaft
als Jüdinnen geschätzt waren. Viel mehr scheint eine Atmosphäre
vorherrschend gewesen zu sein, die Jüdinnen, die sich den Normen so
weit wie möglich anpassten, zu respektieren.
. |
|
Begrenzung
der Anzahl der jüdischen Schülerinnen
auf 1,5 Prozent |
Mit
dem Beginn der Hitlerdiktatur änderte sich die Gesetzesgrundlage,
auf der das nichtjüdisch-jüdische Zusammenleben basierte, grundlegend.
Die Gesetze des
NS-Staates in Bezug auf
Juden hatten zum Ziel, Juden aus dem „arischen Staatssystem“ auszuschließen,
und zwangen sie auch deshalb dazu, wieder deutlich „jüdisch“ zu sein.
Im Bereich der Schulbildung begrenzte die Verordnung zur Durchführung
des Gesetzes gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen
vom 25. April 1933 die Anzahl jüdischer Schülerinnen bei Neuaufnahme
auf 1,5 Prozent. Ab November 1935 war die Definition der Nürnberger
Rassegesetze auch an Schulen die Grundlage zur Bestimmung, wer Jude sei.
Das Gesetz vom 15. November 1938 schloss alle Juden aus höheren Schulen
aus. Parallel zu den Gesetzen, die Juden immer weiter aus dem gesellschaftlichen
Leben ausgrenzten, wurden Gesetze erlassen, die Juden erlaubten, ihre spezifischen
Bräuche und ihre Identität auszuleben. Im Schulbericht durften
seit dem 16. März 1934 jüdische Schülerinnen am Samstag,
zusätzlich zu den Festtagen, dem Schulunterricht fernbleiben.
Wie wirkten sich die Gesetze
auf den Schulbesuch der jüdischen Schülerinnen an der Sophienschule
aus, und wie stellte sich die Schulleitung und die Schulge-meinschaft dazu?
. |
|
Abweichung
von der Norm ist auch nach 1933 unerwünscht |
Der damalige Direktor Dr.
Wülker reagierte empört, als die ersten jüdischen Eltern
mit der Bitte, ihre Töchter vom Samstagsunterricht zu befreien, an
ihn herantraten. Er erlaubte das Fernbleiben der jüdischen Schülerinnen
erst, als er von einem der Väter auf die gesetzliche Grundlage hingewiesen
worden war. Es scheint also, dass die Schulleitung dem Teil der nationalsozialistischen
Politik, die Juden dazu bringen wollte, wieder deutlich jüdischer
zu sein, kritisch und unwillig gegenüber stand. In diesem Punkt scheint
also Kontinuität im Verhalten der Schulleitung bestanden zu haben,
die von ihren jüdischen Schülerinnen vor allem Anpassung an die
vorherrschenden nichtjüdischen bürgerlichen Normen verlangte.
In diesem Zusammenhang ist
wohl auch die Anfrage zu verstehen, in der Dr. Wülker um Klärung
bittet, ob er die jüdischen Schülerinnen zur Teilnahme am Sportfest,
das an einem Sonnabend stattfand, ersuchen dürfe und ob jüdische
Schülerinnen weiter mit ins Landschulheim fahren dürften. Wie
sehr aber Anpassung und Unterordnung von den jüdischen Eltern und
Schülerinnen erwartet wurde, zeigt wohl auch die Bemerkung „jüdische
Unverschämtheit“, die auf einem Brief zu finden ist, in dem ein Vater
mit Bezug auf die Rechtslage die Aufnahme seiner Tochter in die Sophienschule
beantragte.
. |
|
Gesetzestreue
bis zur Kommazahl |
Eine weitere Tatsache, die
ebenfalls in den Dokumenten deutlich wird, ist, dass Dr. Wülker sich
in erster Linie als ein dem Gesetz verpflichteter Staatsangestellter verstand,
der unabhängig von seiner persönlichen Auffassung die Vorgaben
des Staates anzuerkennen und umzusetzen hatte. In der Korrespondenz, die
er mit jüdischen Eltern führte, ist er äußerst formal
und bezieht sich lediglich auf Gesetzesvorschriften, ohne eine persönliche
Meinung erkennen zu lassen, wie in den beiden folgenden Beispielen deutlich
wird:
„Sehr geehrter Herr Stern!
Bezugnehmend auf die durch ihre Gattin seinerzeit an mich gerichtete Anfrage,
muß ich Ihnen leider mitteilen, daß Schülerinnen nichtarischer
Abstammung, deren Väter nicht Frontkämpfer sind und deren Eltern
nicht arisch sind, in der Sophienschule erst dann wieder aufgenommen werden
können, wenn die Zahl der vorhandenen nichtarischen Schülerinnen,
die zur Zeit statt der vorgeschriebenen 1 1/2 über 2 Prozent beträgt,
auf die festgelegte Zahl zurückgegangen ist. Zur Zeit ist eine Aufnahme
nicht möglich.“
Ein anderes Mädchen
wurde aufgenommen: „Sehr geehrter Herr! Nach dem Gesetz vom 25.4.33 kann
ihre Tochter in der Sexta der Sophienschule aufgenommen
werden, vorausgesetzt, daß
Sie den Nachweis erbringen, daß Ihre Gattin arischer Herkunft ist.“
So zeigt sich Dr. Wülker vor allem als ein akkurater Verwalter und
Umsetzer der von den neuen Machthabern diktierten Quote, die den Anteil
der
jüdischen Schülerinnen
auf 1,5 Prozent reduzierte.
Die Akten enthalten mehrere
Listen, die er anfertigte, um dies auszurechnen. Interessant ist, dass
Dr. Wülker begann, sich scheinbar emotional von der Aufgabe, die er
erfüllte, zu distanzieren, indem er die jüdischen Schülerinnen
entpersonifizierte und sie als ‚Bestand‘ bezeichnete.
. |
|
"Eine
Mitschülerin hatte mich nicht mehr zum Geburtstag eingeladen" |
Es war schwer, klare Aussagen
von Zeitzeuginnen darüber zu erhalten, wie sich der Schulalltag nach
dem Beginn des nationalsozialistischen Staatssystems zu verändern
begann, da in der Erinnerung die Jahre und Ereignisse oft nicht mehr klar
datiert werden konnten. Es scheint jedoch, dass die jüdischen Mädchen
sich immer mehr in eine jüdische Nische zurückzogen, weil sie
immer weiter ausgeschlossen wurden, von Freizeitaktivitäten wie im
BDM, aber auch im Privaten.
Eine jüdische Frau sagte
mir: „Eine Mitschülerin hatte mich nicht mehr zum Geburtstag eingeladen,
wo ich jedes Jahr hinging. Ich hatte schon ein Geburtstagsgeschenk gekauft
und wurde plötzlich nicht mehr eingeladen.“ Eine nichtjüdische
Frau, die einem Dreierklub von einem jüdischen und zwei nichtjüdischen
Mädchen angehört hatte, erinnerte sich, wie sie auf Anweisung
des Vaters des anderen nicht-jüdischen Mädchens die jüdische
Freundin aus ihrem Klub ausschlossen. Eine andere nichtjüdische Frau
datierte die Emigration ihrer jüdischen Freundin zwei Jahre zu früh,
was darauf hindeutete, dass der Kontakt zwischen den einstmals engen Freundinnen
schon zwei Jahre vor 1937 so weit zurückgegangen war, dass die jüdische
Freundin, obwohl noch in der selben Klasse, in den Erinnerungen nicht mehr
vorkommt.
Wie sehr sich das Selbstverständnis
der jüdischen Familien, die ihre Töchter auf die Sophienschule
schickten, veränderte, so dass sie sich wohl immer mehr in eine jüdische
Gemeinschaft zurückzogen, zeigt der Brief, den eine jüdische
Mutter an Dr. Wülker schrieb. Sie bat darin um die Freistellung ihrer
Tochter vom Sonnabendunterricht: „Sie werden sicher verstehen, daß
die veränderten Verhältnisse mich zwingen, das Kind zu einer
bewußteren Jüdin zu erziehen, als es in meinem liberalen Haushalt
bisher geschah.“
. |
|
"Getürmt"
und bedauerlicher-
weise gezwungen, das
Land
zu verlasen |
Am 15. November 1938 veröffentlichte
das Reichsministerium der Wissenschaft folgenden Erlaß: „Nach der
ruchlosen Mordtat von Paris (der Legationssekretär Ernst vom Rath
war von dem Juden Herschel Grünspan erschossen worden) kann es keinem
Lehrer ... mehr zugemutet werden, an jüdische Schulkinder Unterricht
zu erteilen. Auch versteht es sich von selbst, daß es für deutsche
Schüler unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen.
... [Ich] ordne daher mit sofortiger Wirkung an: Juden ist der Besuch deutscher
Schulen nicht gestattet. Sie dürfen nur jüdische Schulen besuchen.
... Diese Regelung erstreckt sich auf alle mir unterstellten Schulen einschließlich
der Pflichtschulen.“
Seit diesem Datum besuchte
keine Jüdin mehr die Sophienschule. Viele hatten aller-dings schon
zuvor Deutschland und damit die Schule verlassen. Die letzten Schultage
in der Sophienschule werden die betroffenen Schülerinnen unterschiedlich
erlebt haben. Eine jüdische Frau erinnerte sich noch daran, wie sie
sich am letzten Schultag vor der Emigration 1937 verabschiedete: „Das hat
mich sehr beeindruckt, wie ich mich in der Schule von dem damaligen Direktor
Dr. Wülker ... verabschiedet habe. Er war sehr gerührt und sehr
ergriffen.“ Andere jüdische Schülerinnen scheinen allerdings
nicht mit so viel Achtung von der Schule gegangen zu sein. An einen Brief,
in dem mitgeteilt wurde, dass eine Schülerin die Schule aufgrund ihrer
Emigration nach Amerika verlassen hatte, schrieb höchstwahrscheinlich
Dr. Wülker als Kommentar „getürmt“.
Diese unterschiedlichen Reaktionen
machen deutlich, dass es nicht eine einheit-
liche Haltung gegenüber
allen Juden an der Sophienschule gab, sondern dass Reaktionen und Benehmen
gegenüber Juden variierten und wohl davon abhingen,
inwieweit die betreffende
jüdische Familie sich den vorherrschenden Wertevorstellungen der Schule
anpaßte. Dies war so vor dem Beginn der Nationalsozialismus und nach
1933.
Die Sophienschule war also
eine Schule, die Jüdinnen, so lange der Staat dies vorsah, erlaubte,
an der Schulgemeinschaft teilzunehmen, ihnen aber nicht zugestand, dies
in ihrer Andersartigkeit zu tun. Die Schule definierte nach den Wertevorstellungen
der einflussreichsten Leute in der Schule, wer ein ‚guter‘ und wer ein
‚schlechter‘ Jude sei. Diese Schlussfolgerung wurde aus der Art und Weise,
wie sehr die jüdische Familie sich den Spielregeln der Schule unterwarf,
gezogen. Erst nach 1933 wurde ‚jüdisch‘ offen als ein negativ belegtes
Wort verwendet. Offen jüdisch oder einfach ‚anders‘ zu sein, war jedoch
zu keinem Zeitpunkt akzeptiert.
Die Interviews mit den ehemaligen
Sophienschülerinnen wurden 1996 und 1997 im Rahmen der For-schungen
zur Magisterarbeit der Autorin an der Universität von Cambridge, England,
durchgeführt.
Die Autorin, Jahrgang 1972,
ist nach dem Studium der Geschichte und europäischer Integration in
England und zweijähriger Berufstätigkeit in Brüssel zu Minderheitenrechten
in Europa, heute in Bangkok im Bereich der Migrationsforschung tätig.
. |
|
.©
2002 Sophienschule Hannover |
|