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Das
Einleben in Hannover fiel mir schwer. Die große Stadt, das flache
Land, das windige, regnerische Klima, die zurückhaltende Mentalität
der Menschen, all das machte mir zu schaffen. Die Mitschülerinnen
in der Sophienschule, einer Realgymnasialen Studienanstalt für Mädchen
mit den drei Pflichtsprachen Französisch, Englisch und Latein, sahen
für mich fast wie Nonnen aus in ihren schlichten Kleidern mit weißen
Kragen. Ich hatte das Gefühl, daß im Vergleich dazu meine buntfarbigen
Kleider ebenso unangenehm auffielen wie meine mangelnde Scheu, in der Musikstunde
ein Solo zu singen. [...]
In
der Rückschau wird mir klar, daß wir Mädchen während
unserer Schulzeit in der Sophienschule in Hannover eine gewisse Immunisierung
gegen den herandrohen-den Nationalsozialismus empfangen haben. In vielen
Jungenschulen war das anders. Von zeitgenössischer Politik war zwar
in diesem Mädchengymnasium nicht die Rede, der Name Rosa Luxemburg
etwa tauchte nicht auf. Mein Vater nannte sie „die rote Megäre“, worunter
ich mir nichts vorstellen konnte, ich fragte aber auch nicht nach. Das
Fach Gemeinschaftskunde gab es nicht, im Geschichtsunterricht ging es nach
dem Grundsatz «Männer machen Geschichte», und diese Geschichte
machten Männer mit Kriegen. Sozialgeschichte oder Wirtschaftsgeschichte
gehörten nicht zum Lehrplan. Aber vom großen kulturellen Aufbruch
der zwanziger Jahre haben wir eine Ahnung bekommen und von den reformpädagogischen
Ideen dieser Zeit profitiert, durch die einige unserer Lehrer und Lehrerinnen
geprägt waren. Das waren liberale Leute ohne autoritäres Gehabe.
Unser Geschichtslehrer war Demokrat, die Deutschlehrerin und die Religionslehrerin
waren sozialdemokratisch orientiert, so hieß es.
Ich
nenne drei Beispiele. Erstens: Unsere Zeichenlehrerin (sie sah so lieb
aus, wie sich ihre Berufsbezeichnung anhört, hatte aber sehr wache
helle Augen unter den grauen krausen Haaren) ging mit uns in Ausstellungen
zeitgenössischer Kunst, schärfte unseren Blick, unser Wahrnehmungsvermögen
am künstlerischen Objekt und lehrte uns, unvoreingenommen auch an
zunächst befremdliche künstlerische Aussagen heranzugehen. In
den Zeichenstunden durften wir uns selbst an Ungegen-ständlichem versuchen.
Das war eine Art „Feiung“. Entsetzt und empört ging ich wenige Jahre
später durch die Wanderausstellung „Entartete Kunst“ (1936), deren
Objekte die nationalsozialistischen Kulturmachthaber aus den deutschen
Museen und Künstlerateliers zusammengestohlen hatten. Den farbenleuchtenden
Expressio-nismus, die ganze Palette derer, die heute zur „klassischen Moderne“
gerechnet und hoch gehandelt werden, die sozialkritischen, prophetischen
Antikriegswerke von Käthe Kollwitz, Ernst Barlach, George Grosz, Otto
Dix und vielen anderen. Entartet? „Ostische Untermenschen“ sollten die
schweren bäuerlichen oder proletarischen Modelle der Kollwitz und
Barlachs sein? „So sieht eine deutsche Mutter nicht aus“, hieß es
offiziell.
Zweites
Beispiel: Die rein biologistische Wertung der Frau seitens der Nationalsozialisten
hat mich abgestoßen und erbost. Frau gleich Mutter. Wieso eigentlich
nur Mutter, fragte ich. Bin ich als ein Mensch im Seinsmodus des Weiblichen
(ich benutze hier die Formulierung von Hanna Wolff in ihrem Buch Jesus,
der Mann, Stuttgart 1975) nicht zu weiteren, breiteren Möglichkeiten
angelegt, so wie ein Mensch im Seinsmodus des Männlichen es auch ist?
Gerade die beiden Lehrpersonen, die mich als Persönlichkeiten am stärksten
beeindruckt haben, waren keine Mütter, aber Menschen im Seinsmodus
des Weiblichen, also Frauen: unsere dicke, äußerlich unscheinbare
Deutschlehrerin, von der man munkelte, daheim rauche sie Pfeife, und die
schicke junge Religionslehrerin mit ihrem kurzen, strengen Haarschnitt,
in deren Stunden die Diskussionswogen hochgingen, so über Karl Barth
und Friedrich Gogarten.
Im
Deutschunterricht lasen wir viel Goethe. Ich liebte vor allem den strahlenden
scheiternden Egmont, seine Worte vom „Leben als schöne freundliche
Gewohnheit des Daseins“ und die herrliche poetische Erfindung Goethes,
daß dieser Egmont es vermag, angesichts des kurz bevorstehenden Todes
auf dem Schafott noch einmal müde und ruhig in den Schlaf zu sinken.
Wir lasen aber auch die berühmte Anthologie expressionistischer Lyrik
Menschheitsdämmerung, die 1920 von Kurt Pinthus herausgegeben wurde.
Wir lasen Die Weber von Gerhart Hauptmann und Arbeiterdichter wie Lersch,
Gerrit Engelke, Karl Bröger und Theodor Däubler. Die Lektüre
von Thomas Manns Romanen Die Buddenbrocks und Tonio Kröger führte
bei mir zu einer lebenslangen Faszination. Die Bücherverbrennungen
durch die Nazis einige Jahre später waren ein Schock für mich.
Thomas Mann auf dem Scheiterhaufen?! Es war nicht zu fassen. Aber auch
den Goetheschen Freiheitshelden Egmont ereilte sein Nazi-Schicksal: Gegen
Ende des Krieges verbot der Reichsdramaturg den deutschen Theatern die
Aufführung des Stückes.
Drittes
Beispiel: Unser Geschichtslehrer, gleichzeitig Direktor unserer Schule,
las mit uns in der Geschichts-Arbeitsgemeinschaft Memoiren, Literatur über
den vor neun Jahren beendigten Ersten Weltkrieg. Diese Form des Unterrichts
war damals etwas vollkommen Neues. Wir lernten, wie verschieden von verschiedenen
Autoren über ein und dieselbe Sache geurteilt werden kann, nämlich,
um mich eines Begriffs von Jürgen Habermas zu bedienen, entsprechend
dem jeweiligen erkennt-nisleitenden Interesse. Wer eine solche Anleitung
einmal erfahren hat, der hat es leichter, sich gegen Verabsolutierung,
gegen Indoktrinierung zu wehren. [...]
Nachstehend
zitiere ich aus den Schlußsätzen meiner Ansprache als „goldene“
Abiturientin bei der Abiturienten-Entlassungsfeier 1978 in der Sophienschule:
„Euch Jungen möchte ich sagen: Seid wach, seid kritisch, drückt
euch nicht vor Politik, werdet aktiv, ergründet das Interesse derer,
die von euch eines Tages verlangen könnten, Vernunft und Humanität
zu vergessen. Laßt euch nicht für einen neuen Krieg mißbrauchen,
manchen dauert der Nichtkrieg bereits zu lange. Macht euch kein Feindbild,
laßt euch kein Feindbild einreden. Seid neugierig auf das Fremde,
offen für das Andere, habt den Mut, es insgesamt als humanen Reichtum
zu empfinden, weit über abendländische Tradition hinaus. Das
Glück ist eine Eigenschaft des Mutes, nicht der Angst. Unsere Erde,
der blaue Stern, wie die Astronauten sie sehen können, ist schön.
Lassen wir alle nicht zu, daß sie ein weiteres Mal verwüstet
oder gar in die Luft gesprengt wird. In Abwandlung von Friedrich Schiller:
,Das Leben ist der Güter höchstes‘.“
Der
Rückblick ist der Autobiographie von Frau Dr. phil. Getraude Ils,
Theaterwissenschaftlerin, Jahrgang 1909 („Erinnerungen“), und zwar einem
von der Verfasserin selbst herausgegebenen Sonderdruck: «Nun gehen
Sie hin und heiraten Sie!» Die Töchter der Alma mater im 20.
Jahrhundert, Isolde Tröndle-Weintritt, Petra Herkert (Hg.), Kore-Verlag,
1997, S. 108 ff., entnommen.
Frau
Ils dürfte eine der ältesten noch lebenden ehemaligen Sophienschülerinnen
sein. Sie zeigt immer noch Interesse an der Schule und hat der Veröffentlichung
eines Auszugs aus ihrer Autobiographie in der Festschrift zum Schuljubiläum
gerne zugestimmt.
Renate
Brombacher
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