"DU TRAUST DICH JA DOCH NICHT ..." 
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"Du traust dich ja doch nicht ..."
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Wer hätte es nicht schon einmal erlebt, zu welchen „Heldentaten“ diese aus Ironie, leichtem Vorwurf, aber auch Anfeuerung geborene Bemerkung ihren Adressaten hinreißen kann! Recht häufig ist es Unfug, zu dem auf diese Weise angestiftet werden soll. Und in dem Fall, den ich hier zu schildern beabsichtige und für welchen der erwähnte Ausspruch das auslösende Moment war, war das nicht anders.

Frühsommer im Hungerjahr 1946. Selbst Geburtstagsfeiern hatten damals etwas Spärliches, ließen sie sich doch kaum durch „Zutaten“ aufmischen, von denen – wie zum Beispiel einfach nur echtem Bohnenkaffee – man in den damals knappen Zeiten allenfalls träumen konnte, die aber für den normalen Sterblichen völlig unerreichbar blieben und die – je knapper sie waren – desto größere Begehrlich-keiten erweckten, Alkohol etwa, der praktisch nicht zu kriegen und eben deshalb als „Freudenspender“ herzlichst erwünscht war.

Konnte sich ein junger Mann aber mit einem Vater schmücken, der Arzt war, und hatte er dadurch wenigstens einen gewissen Zugriff zu dieser Rarität, so gewann eine Feier, die er mit zwei Freunden veranstaltete, von vornherein eine höchst willkommene Qualität und Lockerheit, und in fortgeschrittener Stunde fiel dann die diesem Bericht vorangestellte Bemerkung.

Das konnte man ja wohl nicht auf sich sitzen lassen, und so fanden sich die drei Freunde eines schönen Juni-Nachmittags im Heizungskeller der von Bombenschäden arg in Mitleidenschaft gezogenen Sophienschule wieder, um sich dort aus gesitteten Primanern des Ratsgymnasiums in echt – weil leicht zerlumpt – wirkende Handwerksburschen einer Tischlerei zu verwandeln. Den beiden obersten Klassen dieser damals reinen Mädchenschule galt ihr Streben. Dort saßen nämlich im nach-mittäglichen Unterricht die Freundinnen (Tanzstunden,damen’ oder auch schon mehr) der drei Jünglinge, und ebendort fand sich eine zwei Klassen voneinander trennende Schiebetür, die – stark lädiert – gründlicher handwerklicher Zuwendung bedurfte.

Der Einfall in die erste der beiden Klassen, in der passenderweise just Biologieunterricht stattfand, erwies sich schon als gelungener Auftritt. Den Mädchen, die uns natürlich erkannten, blieb förmlich die Luft weg, als wir uns erkundigten, ob dies „die Klasse mit die kaputte Schiebetür“ sei; nicht aber der Studienrätin, die wissen wollte, ob wir mit unserem Wirken nicht bis zur Beendigung der Stunde warten könnten. „Der Meister hat jesacht, um sechse müßten wa wieda da sein“ wurde sie abschlägig beschieden. Dem Beginn des fachmännischen Wirkens stand jedoch noch ein Hindernis im Wege, nämlich eine quer vor der Tür stehende lange Holzbank, auf welcher eine Referendarin thronte, für deren Ohren die Ausführungen der Lehrerin zu Fragen der Vererbungslehre weit besser geeignet waren als für die unsrigen. Aber dann ging’s los: Es wurde gemessen, berechnet, notiert, erneut gemessen und notiert, ehe die Tür geöffnet wurde, um sie auch von der anderen Seite in kritisch-„fachmännischen“ Augenschein zu nehmen. Dort nun saß die zweite Mädchenklasse, deren Schülerinnen wir ebenfalls bestens bekannt waren und die nun gleichartige Schwierigkeiten beim Luftholen vor unterdrücktem Lachen bekamen, wie sie die von uns zuvörderst beglückten gerade erst überstanden hatten. Erneut begann die außerordentlich kompetent wirkende Arbeit, und auch hier war für eine gute Viertelstunde an eine geordnete Fortführung des Unterrichts nicht zu denken.

Aber auch das ging vorüber. Die Tür wurde geschlossen, die Bank wieder an ihren Platz gestellt und die aufgescheuchte Referendarin mit einem freundlichen „So, Frollein, nu könn’ se wieder platzen!“ wieder in ihre Rechte eingesetzt. Die braven Handwerker räumten das Feld, und die in arge Turbulenzen versetzten Mädchen fanden allmählich ihre Fassung wieder.

Nun aber glaubte die Studienrätin, die verlorene Unterrichtszeit durch einen wahrhaft pädagogischen Kraftakt wieder ausgleichen zu müssen. Demgemäß sprach sie zu ihren Schülerinnen also: „Ich verstehe überhaupt nicht, meine Damen, daß Sie sich durch den Anblick dreier männlicher Individuen so aus der Fassung bringen lassen. Schließlich, meine Damen, muß man doch auch die ehrliche Arbeit dieser Volkskreise zu würdigen wissen!“ Warum die „Damen“ bei dem Stichwort „ehrliche Arbeit dieser Volkskreise“ in ein wahrhaft undamenhaftes Gelächter ausbrachen, blieb für die Pädagogin freilich ein Rätsel.

Aber irgendwie rausgekommen ist es schließlich doch, dass hier einiges nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Die weiterhin unrepariert ihr Dasein fristende Schiebetür war hierfür mindestens ein Indiz. So wurde der „Fall“ zum Gegenstand der Erörterung in einer Konferenz des Kollegiums der Schule. Irgendwie hatte man herausbekommen, dass hier Schüler des Ratsgymnasiums ihr Unwesen getrieben hatten. Also – so jedenfalls die Fama – beschloss man, sich bei sich bietender Gelegenheit angemessen zu revanchieren. Ob dieser Beschluß jemals realisiert worden ist, hat der Verfasser allerdings leider nicht in Erfahrung bringen können.

Wer aber waren denn nun die drei „Strolche“? Nun – soviel sei verraten: Alle drei wurden Juristen, die ja nach einer alten Volksweisheit schlechte Christen sind. Einer avancierte zum Staatssekretär in einem Bundesministerium in Bonn, der zweite wurde allseits geachteter Amts- und Stadtdirektor in einem Regierungsbezirk des Landes Nordrhein-Westfalen. Der dritte blieb Hannover und hier insbesondere auch der Sophienschule treu. Nachdem er die damals schon heftig umschwärmte Maid aus einer der beiden in Turbulenzen versetzten Klassen geehelicht hatte, besuchten später seine beiden Töchter – natürlich – ebenfalls die Sophienschule. Ihm selbst wurde eine interessante Aufgabe im Niedersächsischen Ministerium des Innern über-tragen. Daneben übernahm er ehrenamtlich für vier Jahre den Vorsitz im Schuleltern-rat der Sophienschule. In dieser Position versuchte er – hoffentlich nicht völlig erfolglos – nützliche Arbeit für die von ihm so vielfach geliebte Schule zu leisten und nach Möglichkeit in ihrem Dunstkreis keine dummen Streiche mehr zu begehen.

Gerhard Roemheld

 

 

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