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Das stand am 19. Februar 1959 auf einem Pappschild, welches der Kurfürstin Sophie über dem Eingangsportal unserer Schule um den Hals gehängt war. Unser Abistreich damals ... Am 16. Juni 1999 entkam ich nur mühsam einer Wasserschlacht auf unserem Schulhof, Abistreich heute. Tempora mutantur, na ja, das weiß jeder, die Zeiten ändern sich eben.

1951, kurz nach Ostern, erster Schultag: Dichtgedrängt standen wir in der Aula, alle passten in den Raum, Stühle zum Sitzen gab es noch nicht. Unsere künftigen Klassenlehrer hielten handgemalte Schilder in die Höhe, so dass wir wussten, wo wir hingehörten. Es war das erste Mal nach dem Krieg, dass sich alle hier zusammenfinden konnten, denn das von Bomben mitgenommene Dach war mittlerweile repariert. Frau Direktorin Bernecker begrüßte uns kurz und sehr sachlich. Ich weiß nicht mehr, ob sie das sagte, ich habe es seither so oft gehört: non scholae, sed vitae ... Denkt daran, nicht für die Schule lernt ihr, sondern für das Leben. Wir lauschten aufmerksam. Hinter der Direktorin lächelte Sophie an uns vorbei, im Gespräch mit Leibniz. Dort oben an der Bühnenwand hing das große Ölgemälde 1951.

Disziplin war damals groß geschrieben. Die Begrüßung eines Lehrers hatte mit einem tiefen Knicks zu beginnen. Der Unterricht fand an drei Tagen in der Woche vormittags statt, an drei Tagen nachmittags, im Wechsel mit der Elisabeth-
Granier-Schule, deren Gebäude im Krieg völlig zerstört worden war. Allen Lehrern wurde mit Respekt begegnet. Nur insgeheim mokierten wir uns darüber, dass der Religionslehrer drei Unterrichtsstunden allein damit zubrachte, unsere Namen in seinen Lehrerkalender einzutragen, oder dass der Englischlehrer ständig nach kalter Zigarre roch. Schülerinnen der Oberstufe hatten wöchentlich wechselnd die Auf-gabe, in den großen Pausen für Ordnung zu sorgen, d.h. sich um geräumte Klassen, Sauberkeit und Aufsicht auf Fluren und Treppen zu kümmern. Dort standen sie, jeweils oben und unten auf den Podesten jeder Etage, und schafften so in der Mitte Platz für diejenigen, die dem Schülerstrom aus den Klassen entgegenstrebten. Diese Aufgabe erschien uns Jüngeren sehr attraktiv, sie wurde erst sehr viel später aus Versicherungsgründen den Lehrern übertragen. Den Laden an der Ecke durften in den Pausen nur die „Großen“ aufsuchen.

So gaben wir ihnen bei Bedarf unsere Wünsche auf einem Zettel mit und warteten geduldig an der Toreinfahrt, denn einfach vom Hof wegzulaufen, das war auch damals nicht erlaubt!

Landheimaufenthalte waren bis in die 13. Klasse äußerst beliebt, sogar während der Sommerferien.

Es fanden sich damals auch genügend Lehrer und Lehrerinnen bereit, einen Teil ihrer Ferien mit uns dort zu verbringen und sich wiederholt im Sand der Düne bis zum Hals eingraben zu lassen. Das war lustig und bot jede Menge Fotomotive.
Die Düne wurde später eingezäunt und ist längst mit Gras und Buschwerk zugewachsen, als Düne kaum noch erkennbar. Die sanitären Einrichtungen im Landheim waren spartanisch. Für den täglichen Bedarf standen in jedem Zimmer eine Blechschüssel, ein Blechkrug und ein Eimer für das gebrauchte Wasser. Kalt duschen konnten wir in einem Schuppen auf dem Hof. Noch in den ersten Jahren nach dem Krieg war das der Schweinestall gewesen, heute stehen Fahrräder dort. Die Ordnung in den Zimmern war durch eine Art von Wettbewerb geregelt. Die jeweils Besten wurden bei Tisch lobend erwähnt. Das war der Preis.


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Höhepunkte des täglichen Schullebens brachten die Arbeitsgemeinschaften: Rudern, Chor, Orchester und Theater. Rudern ohne eigene Boote? Nun, die liehen wir uns, bis wir später dann eigene hatten. Theater ohne männliche Darsteller? Ja! Bei König Drosselbart war meine Freundin Ebba Reiter mein Prinzgemahl. Eine rührende Liebesumarmung musste peinlicherweise vielfach geprobt werden, bevor sie einigermaßen echt gelang. Den gesamten Text zu diesem Stück hatte unser Lateinlehrer allen, die mitspielen wollten, nach Unterrichtsschluss diktiert, zwei Hefte voll von „manu scripta“, ich habe sie heute noch, ebenso wie ein paar Fotos, kostbar, weil weder eine Schreibmaschine noch ein Kopiergerät und nur ein einziger Fotoapparat für alle und alles zur Verfügung stand.

Die Kostüme nähten wir uns selbst, abends nach dem Schichtunterricht, unter 
geduldiger Anleitung der Sportlehrerin, im Keller. Den Milchkeller gab es damals noch nicht. Immerhin durften aber die männlichen Theaterrollen bald von Schülern 
des KWG übernommen werden, die dann die Gänge der Sophienschule unsicher machten.

Im Lauf der Jahre haben wir viele Kostüme genäht und manches Stück auf die Bühne gebracht. Als singendes Blumenmädchen im „Pfirsichblütenfächer“ z.B. wurde ich einem dicken Widerling verkauft, obwohl ich doch eigentlich einem liebenswerten jungen Mann versprochen war, den ich aber – happy end auf der Bühne – nach bewegenden Kriegswirren wiederfand.

Chinesisches Bühnenbild, chinesische Musik, chinesische Masken, Frisuren und Kos-tüme, alles gemeinsam gebastelt und komponiert in endlosen Stunden, abends, ohne Blick auf die Uhr. Wir waren glücklich.

Und Fernsehen gab es nicht.


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Wann die Kurfürstin Sophie von ihrem Platz in der Aula an die Flurwand im ersten Stockwerk zog, weiß ich nicht. Ich verließ die Schule nach dem Abitur im Februar 1959, studierte Archäologie, Latein und Griechisch und war dann kurze Zeit als Referendarin in Ostfriesland, wo ich die 12. Klasse eines Jungengymnasiums mit den Annalen des Tacitus vertraut machen sollte. Das war ziemlich anstrengend. Da ich heiraten wollte, bewarb ich mich um eine Ausbildungsstelle in Hannover. Zu meiner freudigen Überraschung erhielt ich vom Regierungspräsidenten die nüchterne Aufforderung, meine Referendarzeit bitte an der Sophienschule fortzusetzen. Nachdem ich in Ostfriesland in fremder Umgebung fast nur mit männlichen Schülern zu tun gehabt hatte, spürte ich eine unbeschreibliche Erleichterung, in vertrauter Umgebung große und kleine Mädchen unterrichten zu können. Die Kleinen waren brav, neugierig und fleißig, die Großen ausgesprochen freundlich und sehr interessiert, Schule war für sie durchaus Mittelpunkt ihres täglichen Tuns. Auch Theater wurde weiterhin gespielt.

Nach dem Examen Ende 1967 bekam ich an der „Sophie“ meine erste Stelle und blieb bis heute. Gleich Anfang Januar 1968 zählte zu meinen zunächst ungewohnt vielen Schülerinnen ein kleines Mädchen, zwei Jahre lang in Latein, im dritten Jahr dann in Griechisch. Das war Doris Dörrie. Als Randnotiz zu diesem Namen fand ich jetzt in meinem tatsächlich ersten Lehrerkalender „guter Stil“. Sie war damals eine meiner Besten.

Kurfürstin Sophie, die alte Dame, lässt im ersten Stock nach wie vor ein munteres Völkchen an sich vorbeiflanieren. 1990 haben wir sie zum ersten Mal aus dem Bild heraustreten lassen. Anlass war der 90. Geburtstag unseres Schulgebäudes.
Da schritt sie über den Schulhof und schnitt eine riesige Geburtstagstorte an.
Ein Jahr später wirkte sie, gemeinsam mit ,,Leibniz“, in der Schulrevue als kritische Beobachterin der sich ändernden Zeiten mit. Bei der Geburtstagsfeier 1997 in Herrenhausen wurde dann als Aufführung das ganze Bild lebendig. Da stand plötzlich eine blutjunge Sophie, strahlend in zauberhaftes Rosa gehüllt, wie auf dem Bild im Gespräch mit Leibniz, vielleicht sprachen sie über Kekse.

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Heute brauchen wir uns keine Knaben mehr auszuleihen, wir finden sie in unseren eigenen Reihen. Damit hat sich auch der Umgangston geändert. Die Begrüßung und der Knicks gehören der Vergangenheit an, ein Hallo seitens der Schüler ist schon etwas Besonderes. Die Einstellung zur Schule hat sich geändert. Außerschulisches ist wichtiger geworden. Landheimaufenthalte sollen Ausgangspunkt für möglichst spektakuläre Unterhaltung sein, anderenfalls bekommen sie den Stempel „langweilig“.

Lehrer werden von den Schülern weniger respektiert, dafür aber von den Eltern für die wachsenden Erziehungsprobleme stärker verantwortlich gemacht. Und doch finde ich im Zusammensein mit den jungen Menschen eine wunderbare Ergänzung zu den üblichen Aufgaben des Lehrers: die Offenheit der Gespräche, die selbstverständliche Einbeziehung in ihre individuellen Probleme und dadurch die Möglichkeit, Schwierigkeiten in ihrem Kern lösen zu helfen. Natürlich ist unsere Verantwortung damit anders, größer geworden. Das alles ist aber keineswegs zu bedauern, und also noch einmal der Gruß aus der Antike:


das heißt: Bleibe gesund und stark, Sophie!

Marei Peetz-v.Drygalski

 

 

.© 2002 Sophienschule Hannover