IN SCHWIERIGER ZEIT - BERUFSANFANG 
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In schwieriger Zeit - Berufsanfang
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Im Herbst 1944 trat ich in Göttingen mein Referendariat an. Wenige Tage nach Schulbeginn wurden wir auf „unser’n Führer“ vereidigt. Ich spürte das Makabre der Situation, aber gefangen in Zorn und Hilflosigkeit. – Meine Studienzeit war kurz, aber intensiv gewesen, nicht zuletzt, weil die Zahl der Studierenden meist klein war (fast alle jungen Männer waren ja Soldaten) – in manchen Vorlesungen waren wir nur zwei. Der Krieg warf immer wieder schwere Schatten, auch das ließ uns wohl intensiver leben. In der Verdunklung strahlten die Sterne heller. Wir konnten Freundschaft haben mit Gleichgesinnten und lebten im Gespräch miteinander. – Nun kam der Beruf. Ich wurde in der Göttinger Oberschule für Mädchen in den Unterstufenunterricht in Deutsch und Englisch eingewiesen. Die Unterichtsroutine war nicht begeisternd; das Faszinierende war die Aufgabe: Alle sollten es begreifen, die da saßen, nicht nur die Schnellen und besonders Willigen.

An die Ausbilder im Studiensemester erinnere ich mich wenig. Im „Herrenzimmer“ des Anglisten, in dem wir saßen, hing „unser Führer“ in Öl gemalt. Wir kannten den Typ des karrierebewussten, nicht gerade wegen seiner Leistungen beförderten Funktionärs und hatten gelernt, uns bedeckt zu halten.

Nach wenigen Wochen wurden wir zur Deckung des Unterrichtsbedarfs an andere Schulen versetzt. Ich kam in eine kleine Stadt an eine Jungenschule. Es war eine hungrige Zeit. In der Stadt waren keine Bomben gefallen, aber es gab viel Alarm und Voralarm. Im Zug traf ich eines Tages auf völlig verstörte Menschen: Flüchtlinge aus dem brennenden Dresden. – Mit meinem Unterricht kam ich leidlich zurecht. Der Klassenlehrer einer unruhigen und störrischen Quinta (6. Klasse) sagte zur jungen Kollegin: „Ich prügele sie Ihnen weich.“ Zum Glück wurde er bald darauf versetzt, und ich erlebte, wie eine tüchtige Frau, die an seine Stelle trat, die Klasse durch ihren interessanten Unterricht binnen 14 Tagen verwandelte. Die Jungen sahen ganz anders aus ihren Augen: eine einprägsame Erfahrung. – Ich fühlte mich sehr fremd in diesen Verhältnissen. Mit einer Kollegin machte ich weite Spaziergänge: Es tat gut, im Freien zu sein. Wir überquerten manchmal die völlig leere Autobahn und sahen gelegentlich Trupps von Gefangenen heranmarschieren, die aus westlichen Lagern zurückgenommen wurden. Die Alliierten rückten vor. Der Wahnsinn des Krieges ging weiter. Viele Menschen in der kleinen Stadt waren in die Verblendung der Führenden mit hineingerissen. Sie konnten sich eine Niederlage Deutschlands nicht vorstellen und was danach kommen sollte. Am letzten Tag vor den Osterferien 1945 saß ich mit drei Kollegen zusammen; von uns Vieren glaubten zwei noch immer an den Sieg, an die Wunderwaffe ... Ich habe das Kriegs-ende in dieser Stadt nicht erlebt, nur später gehört von Selbstmorden und Verzweiflungstaten, wie es sie damals allenthalben in Deutschland gab.

Den Einzug der Alliierten sah ich in dem noch zu allerletzt (22.3.1945) zerstörten Hildesheim. Ich weiß noch, dass ich auf einem Baum saß gegenüber dem beschä-digten Haus meiner Verwandten, und die Panzer fuhren vorbei. Von den folgenden Wochen und Monaten ist hier nicht zu berichten, nur so viel, dass damals Englischunterricht für Erwachsene gefragt war. Wir waren ja englische Besatzungszone. Ich lernte, Unterricht aufzubauen ohne vorgefertigtes Material: eine gute Sache. Es herrschte eine ungewöhnliche Aufgeschlossenheit von Mensch zu Mensch. Bald durften wir auch Religionsunterricht geben in der Gemeinde. Die Alliierten hielten das offenbar für nützlich. Ein paar Wochen, im Herbst 1945, war ich Hauslehrerin auf einem Gut: wenig positive Erfahrungen mit dem Unterricht, aber sehr beanspruchend mit allerlei Menschen, die durch den Umbruch durcheinander- geschüttelt waren. Die Hausherrin hatte aufgrund einer Denunziation im Gefängnis gesessen, Flüchtlinge aus dem Osten wurden aufgenommen, tapfere und problematische, im Schloss waren jetzt Fremdarbeiter („displaced persons“) einquartiert, Schwarzhandel blühte im Untergrund. – Damals kamen die ersten Zeitungen heraus und brachten Berichte über KZs und Judenvergasungen: Ein Abgrund tat sich auf ... Ich hatte niemanden, mit dem ich darüber sprechen konnte.

Endlich begann mühsam der Schulunterricht, ab Dezember 1945 konnte ich in Hildes-heim einige Stunden hospitieren. Schulräume waren knapp. Frau Professor Kunze unterrichtete eine Prima eines hauswirtschaftlichen Zweiges (diese Klassen galten als weniger interessiert) in Deutsch; das spielte sich in einem großen kalten Gemein-deraum ab, – an der Wand standen gerettete Lorbeerbäume – aber mir wurde warm. Diese Frau war großartig. Die Schülerinnen stellten kluge Fragen, und sie konnte in wenigen Sätzen z.B. Grundlinien der Kantischen Philosophie skizzieren, die Ent-wicklung ging im Gespräch vor sich.

Es ist weithin vergessen worden, dass die Nazis fast durchgehend Frauen aus höheren Stellen vertrieben hatten. Professorinnen wie Frau K. wurden zu Studienrätinnen zurückgestuft, Oberschulrätinnen und Ministerialrätinnen vorzeitig pensioniert, der Leiterin der gynäkologischen Abteilung eines Krankenhauses wurde ihr Oberarzt als Chef vorgesetzt etc. Jetzt konnte man sich in der ersten Wiederaufbauphase auf solche Frauen und Männer stützen, die sich charakterlich bewährt hatten. Mir begegneten in der folgenden Zeit mehrere Frauen, die von der Arbeitsschulbe-wegung der 20er Jahre geprägt waren, menschlich hoch gebildet, auf Selbständigkeit der Schülerinnen gerichtet, jede eine eigene Persönlichkeit mit ihrer besonderen Ausstrahlung. – In Hildesheim konnte ich noch am Pädagogikunterricht des Jugendleiterinnenseminars teilnehmen. Man merkte, dass die „Schülerinnen“ eigene Berufserfahrung hatten, es war ein anspruchsvoller Unterricht in einem weiten Horizont. Ich wurde damals an Pestalozzi herangeführt und fing an, seine sozialpädagogischen Schriften zu lesen und zu verarbeiten: Da ging es um Wege der Wieder-herstellung aus schuldhaft zerstörten Verhäftnissen, um Aufrichtung von Menschlichkeit und Solidarität.

Bald wurde ich zum Studienseminar nach Hannover einberufen (Januar 1946) und bekam die Möglichkeit zu eigenem Unterricht. Jetzt wurde mein „drittes“ Fach beson-ders wichtig: evangelische Religion. Ich schrieb meine Assessorarbeit über Unterricht in den Urgeschichten der Bibel in zwei Klassen 10. Es war klar zu erkennen, dass es keine leichte Aufgabe war und sein würde, junge Menschen an die Bibel und ihre Botschaft heranzuführen: Zunächst galt es, beweglich zu sein und zu hören, was für Vorstellungen sie mitbrachten, und dann waren Brücken zu bauen zu den Inhalten, die mir fest standen. Sie hatten sich ja bewährt. Der 1. Satz meiner Arbeit lautete: „Der Religionsunterricht wird in einer anderen Verantwortung gegeben als der übrige Unterricht.“ Der Oberschulrat in der mündlichen Prüfung wunderte sich darüber ... Das Examen war schon bald, im Sommer 1946. Unsere Ausbildungszeit war also sehr kurz, zu kurz wahrscheinlich. Immerhin wurde dadurch die Freude, selber herauszufinden, „was ging“, lebendig erhalten und nicht durch methodischen und didaktischen „Drill“ getötet.

Ich weiß nicht mehr viel von den Klassen, in denen ich damals einige Monate oder Wochen unterrichtete, aber ich erinnere mich an aufnahmebereite Gesichter und viel freundliche Bereitschaft der jungen Lehrerin gegenüber, über die ich mich manch-mal wunderte, denn diese Anfänge waren doch sehr tastend. Wie meine Schülerinnen durch den Krieg gekommen waren, erfuhr ich nicht. Ich mochte annehmen, dass sie einigermaßen behütet gewesen waren. – Später hörte ich einmal das Referat einer erfahrenen älteren Kollegin aus dem Rheinland, die aus so genannten „Bildungs-gängen“ von Abiturientinnen Berichte zusammengestellt hatte über das Erleben der jungen Menschen in den vergangenen Jahren, als Flüchtlinge auf langen Trecks, als Überlebende schwerer Bombenangriffe, als Zeugen von Tieffliegergefechten auf freiem Feld mit Toten unmittelbar neben ihnen, als Waisen mit Verantwortung für jüngere Geschwister.

Nach dem Examen im Sommer ging ich zum ersten Mal „über die grüne Grenze“, um nach Hause zu kommen, nach Mecklenburg. Acht Monate lebte ich in der sowje-tischen Besatzungszone – durch einen schlimmen und langen Winter hindurch – und erfuhr, wie die Menschen „drüben“ lebten und was sie durchgemacht hatten. Der Blick auf die unheimliche und gewalttätige stalinistische Politik und Ideologie forderte später immer wieder zur Abwehr und Auseinandersetzung heraus: Das spielte eine wichtige Rolle im Unterricht der vierziger und fünfziger Jahre.

Erst im Mai 1947 konnte ich an der Sophienschule anfangen. Auch in Hannover war der Winter schlimm gewesen, und geregelter Unterricht war nicht möglich. Frau Oberschulrätin Wurmb hatte mich wohl für diese Schule ausersehen, an der sie selber unterrichtet hatte. Ich erinnere mich noch an einen Vortrag, den sie uns Referendaren und Referendarinnen 1946 hielt, ich glaube über den Ertrag der Frauenbildungs- bewegung. Jedenfalls repräsentierte sie die Pioniergeneration dieser Bewegung in höchst eindrucksvoller Weise. Auch sie war 1933 pensioniert worden und nun zurückgerufen. Ich wusste von ihr aus Erzählungen. Sie war gefürchtet (als „Tatzelwurm“), aber auch hoch geschätzt. Als Lehrerin war sie ihren früheren Schülerinnen unvergesslich; den Schiller‘schen Freiheitsbegriff hatte sie ihnen für immer eingeprägt. Diese Frauen hatten sich schwer durchsetzen und behaupten müssen, und man kann sich heute überhaupt kaum noch vorstellen, wie autoritär Behördenvertreter früher auftraten und regierten. Ich habe das aber noch am eigenen Leibe zu spüren bekommen, als ihre Nachfolgerin Abitur abnahm bei der ersten Klasse, die ich als Klassenlehrerin führte.

Die Sophienschule war beschädigt, aber nicht zerstört. Wir hatten Schichtunterricht, und in der ersten großen Pause gab es Schulspeisung. Sie war hochwillkommen. Im Kollegium lernte ich noch Frauen kennen, die ihrer Tüchtigkeit wegen bald als Direktorinnen eingesetzt wurden. Damals hielten die Engländer als Besatzungsmacht darauf, dass Mädchenschulen eine weibliche Leitung bekamen, und es fanden sich auch Frauen genug, die das auf sich nahmen. Die weitaus meisten Gym-nasiallehrerinnen waren unverheiratet. Es war noch nicht lange her, dass eine Lehrerin, die sich verheiratete, ausscheiden musste.

Ich konnte unterrichten, was ich als Bildung aufgenommen hatte und was in mir lebendig war. Weil ich wusste, dass das nicht selbstverständlich war, war ich dankbar dafür. Die Vorbildung der Schülerinnen war lückenhaft, aber wir hatten viel guten Willen, Schülerinnen und Lehrerin. Die Entnazifizierung, die damals der „Vergangen-heitsbewältigung“ dienen sollte, betraf meinen Jahrgang nicht, wir waren zu jung gewesen. – Einmal schickte mir Frau Direktorin B. den education officer, der sich in der Schule eingefunden hatte, in den Englischunterricht. Nachdem ich ihn weidlich gelangweilt hatte mit grammatischen Übungen, suchte ich Schülerinnen aus für das Spiel „buying and selling“. Er schaltete sich ein und versuchte, als butcher unter dem Ladentisch „schwarz“ Wurst zu verkaufen. Er nahm dann kommentarlos Abschied, ich glaube: wohlwollend.

Zweimal wurde ich „zur demokratischen Umerziehung“ ins Ausland eingeladen (1948, 1949) als junge deutsche Lehrerin: einmal in die Schweiz und einmal nach England. Das ergab Einblicke in fremde Welten, fremd nicht nur wegen der eleganten Kleidung und der Perlonstrümpfe. Wir wurden mit sozialen und pädagogischen Einrichtungen bekannt gemacht und lernten Menschen kennen, die in ihnen arbeiteten. Aber natürlich blieben die Eindrücke flüchtig; sie waren für mich wohl kaum „übersetzbar“, und Distanz zu den eigenen Verhältnissen stellte sich nicht ein. Sich mit Deutschland, dem geteilten, in seinem Elend zu identifizieren, war keinen Augen-blick fraglich. Ich staunte über das Maß an Unverständnis, das mir bei Ausländern begegnete. Was ich über Geschehnisse in der sowjetischen Besatzungszone berich-tete, stieß in England schlicht auf Unglauben. In der Schweiz begegnete ich moralischer Verurteilung der jungen Deutschen, die durch den Krieg aus den Ordnungen geworfen waren. Aber es überwog der Eindruck eines bemühten Entgegenkommens.

Das Leben in Deutschland mit seinen elementaren Problemen forderte uns ganz. Zu selbständigen Erwägungen über den politischen Kurs, über Alternativen im Wieder-aufbau des Schulwesens waren wir Jungen kaum fähig. In der Regel respektierten wir die älteren Kolleginnen und Kollegen ganz selbstverständlich. Im Kollegium gab es sicher Spannungen, aber auch noch viel Übereinstimmung in pädagogischen Grundfragen. Wir wollten wieder anknüpfen an das, was sich bewährt hatte. Aber wir wollten auch aufholen in den geistigen Bewegungen der Zeit, von denen der Nationalsozialismus Deutschland abgeschnitten hatte. So ging es lebhaft zu in einer Deutschlehrer-Arbeitsgemeinschaft, in der katholische, evangelische und anthro-posophische Lehrer und Lehrerinnen beieinander waren: Ich empfand diese Zeit als fruchtbar.

Elfriede Büchsel
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