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IMMER NUR PUNKTE
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Immer nur Punkte:
1980 wie heute
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1.
Ausblick auf einen
pädagogischen
Garten
– Die Schüler |
Da
sitzen sie nun, die mühsam über die Mittelstufe herübergerettet
worden sind, und die, die überraschend wieder Anschluss suchen – die
Eisernen von früher, die schon immer an allem interessiert waren,
und die Anhänglichen; die Frommen, eher skeptisch, milder Blick aus
Teestubenaugen, „Jesus lebt“ am Pullover – die Kritischen, die andere,
aber auch Plaketten tragen, die den Laden „irgendwo ein Stück weit“
in Schwung bringen wollen, prophetisch auf ihre Weise – die Harmlosen,
die sich etwas Nettes wünschen, freundliche Atmosphäre, stille
Töne: Dabeisein ist alles – die Strategen, die wissen, wo sie ihre
Punkte kriegen – Freunde und Freundinnen, froh, sich wiedergefunden zu
haben.
Friedlich
noch allesamt, wie sie da beieinander sitzen, von links nach rechts, von
vorn nach hinten, in allen gängigen Bekennerfarben: grün, rot,
schwarz, gewandet in blassverwaschenem Demolook oder gefälteltem Flanell,
Schüchterne und Vorlaute, Schweiger und Schwätzer, Freiwillige
und solche, die des Schicksals Los überwältigt hat, alles in
allem, Schüler in einem ausgesprochen ordentlichen Unterricht, einmal
wöchentlich, zweistündig: Mittag ist vorüber schon, hurra,
wir haben Religion. |
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2.
Ein Los wird kommen,
das bringt
dir den einen ...
– Der Lehrer |
Darf
sich der Lehrer fragen, warum sich gerade diese Schüler von ihm unterrichten
lassen wollen, sollen, müssen? Hat Unter-Richten eher etwas mit Aus-Richten
oder Auf-Richten zu tun? Ist der Unterrichtende ein Richter? Wer klagt
den Schüler an, wer verteidigt ihn im so genannten Unterrichts-Prozess?
Sind die Rollen überhaupt richtig verteilt? Welche soll der Religionslehrer
übernehmen? Sind „Übergriffe“ in diesem Rollenspiel unvermeidlich?
Der Schüler, das unbekannte Wesen, nur als päd-agogische Konstruktion
lustvoll problematisch: Sie müssen nur Nippel durch die Lasche ziehen!
O Schüler, wie soll ich dich empfangen und wie begegne ich dir? Was
erwarten die Religionsschüler, was wissen sie, was wollen sie lernen
und wie? Wer ist mit wem, wer gegen wen? Wer redet, wer schweigt? Wer weiß
etwas und schweigt trotzdem? Wer spricht ständig, obwohl er nichts
weiß – noch nichts? Wer ist lernfähig, wer lernwillig? Der Schüler
denkt, der Lehrer lenkt, moderiert moderat: eines jener erquicklichen Originale,
bei denen sich selbst Schwächen in Vorzüge verwandeln und in
ihm – weiter mit Fontane – noch ganz das eigentümlich sym-pathische
Selbstgefühl all derer, die schon vor den Reformen da waren, aber
er hegte dieses Selbstgefühl nur ganz im Stillen, und wenn es dennoch
zum Ausdruck kam, so kleidete sichs in Humor, auch wohl in Selbstironie,
weil er seinem ganzen Wesen nach überhaupt hinter alles ein Fragezeichen
setzte. (Frei nach Fontane, Stechlin.)
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3.
Der Herr wird mit uns sein,
wie
er mit den Vätern war -
Der
Unterricht |
Also
nach allen Seiten offen, wie das denn nun mal so ist im RU: Erst fängt
er ganz langsam an, problemorientierte Polonäse, da kommt Freude auf,
kooperativ, provo-kativ, informativ, kognitiv, affirmativ, kompensatorisch,
therapeutisch, sachorien-tiert, handlungsorientiert: von jedem etwas, gegen
alles oder auch dafür, zum Aufwärmen, zum Kennenlernen, immer
interessant und motivationsfähig, ex- und intrinsisch, von Hamburg
bis nach Wuppertal. Ob man dieses oder jenes überhaupt glauben dürfe,
wer denn das bestimme, auf der einen, „ein feste Burg ist unser Gott“,
auf der anderen Seite, eins, zwei, drei im Sauseschritt, die Zeit vergeht
und vieles andere mit, der Kurs hat ja auch ein Thema! So wird Brüderlichkeit
durch Leistung eingeholt. Die Geister scheiden sich, und bisweilen fehlen
sie ganz, individuell und kollektiv, da in anderen Fächern schon Arbeiten
geschrieben werden.
Studienfahrten raffen zeitweilig
ganze Jahrgänge dahin. Und der Lehrer geht selber mit auf große
Fahrt, bloß im anderen Jahrgang. Auch bildet er sich gern fort, gegen
Krankheit ist er gleichfalls nicht gefeit. So fallen manche Einfälle
aus, da ja auch der Unterricht ausfällt. Aller Trost: Bei Philippi
sehen wir uns wieder. Der Klausuren-termin nämlich steht seit langem
fest.
Natürlich ist Religion
auch früher dran als andere Fächer, in denen muss man doch erst
mal Stoff sammeln, sagen die Naturwissenschaftler, und die Sprachler schließen
sich freudig an, kollegiales Motto: In Religion findet man immer etwas!
Die Klausur rückt näher, gefürchtete Schülerfrage:
„Worüber schreiben wir denn?“ Der Lehrer stellt sich insgeheim dieselbe
Frage, lässt sich aber nichts anmerken, verweist auf die vielen Zettel,
die er produziert hat. Da steht alles drin. Entsetztes Schülerecho:
„Zettel? Welche denn ...?“ Zum Glück findet sich ein Text, in dem
schon alles drinsteht, die Aufgaben werden ein Übriges tun. Den Geistesgegenwärtigen
eröffnen sich reelle Chancen. Was kommt dabei heraus? Auf jeden Fall
Punkte, sie sind ja gleichsam „vorgeschrieben“. Der Lehrer ist dazu verpflichtet,
sie aufzuspüren, wird er fündig? Schlagerweisheit 82: „So muss
das Leben wohl sein, es holt alle Verlierer mal ein ...“ Und wie war es
mündlich? Derselbe Schlager: „Ich (Lehrer) sah dir (Schüler)
ins Gesicht, du sagtest, frag mich nicht ...!“ Also, der Lehrer erinnert
sich, holt Aufzeichnungen hervor, gewichtet, ordnet. Im nächsten Halbjahr
soll es doch weitergehen. Werden alle wiederkommen? Wäre es überhaupt
wünschenswert? Wie kleinlich, wie großzügig darf er mit
den Punkten umgehen? Sind nicht alle Fächer vor dem Schulgesetz gleich?
Gerechtigkeit, Durchsichtigkeit, Überprüfbarkeit, jedes für
sich kann schon unerbittlich sein; das letzte Stündlein naht:
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4.
Wem die Stunde schlägt -
Die Punkte |
Letzte
Stunde im Semester, high noon, der Lehrer betritt breitbeinig den Klassenraum.
Seine Rechte zieht lässig das grüne Kursbuch, die Spielhand ordnet,
unauffällig, mit Zahlen beschriftete Papiere. Er ist auf Zeitgewinn
aus, stellt mit gespieltem Erstaunen Vollzähligkeit fest, ist beiläufig
erfreut über Pünktlichkeit, bearbeitet geschäftsmäßig
die Anwesenheitsliste.
Die Gegenseite schweigt,
das Strickzeug ruht. Gegen frühkindlichen Liebesentzug hilft keine
Cola mehr. Dem unbehausten Schüler droht neuerlicher Absturz, weh
dem, der keine Heimat hat!
Der Lehrer richtet sich mit
sicherndem Blick auf das letzte Gefecht ein. Eine Mischung von Sorge und
Verachtung, ängstlicher Abwesenheit und professionellem Desinteresse
spiegelt sich auf den Gesichtern der Schüler. Blitzschnell klärt
der Lehrer die Lage, schaut insgeheim auf vermutete Angriffs- und Verteidigungsvarianten
voraus. So wird A. bei Aufruf der Zensur – gleich welcher – lässig
die Hand heben wie Beckenbauer, wenn er den Platz verlässt. F. blickt
ihn bekennerhaft trotzig an, ihr Wahlspruch: Hier sitze ich, ich kann nicht
anders! R. hat längst ideologisch solide Übelkeit gepackt, Zensuren
zementieren bekanntlich den Klassenunterschied. Die Alternativen blicken
derweil verzweifelt hinaus ins Grüne, eine verheerende Umweltverschmutzung
steht unmittelbar bevor. Bei den Stillen im Lande finden sich die Hände:
Das Ende naht. M. blickt statt dessen in dieser Stunde der Demütigung
bereits auf den historischen Wechsel und denkt an den nächsten Lehrer,
den er wählen kann.
Die erste Runde beginnt:
Leistungen der Kursteilnehmer im groben Raster, Gruppie-rungsangebote.
Die Spannung wächst, Namen fallen. Bedrohliche Heiterkeit durchbricht
die unheilvolle Stille. Erste Scharmützel, rhetorisch noch wenig ausgefeilt,
bahnen sich an: „Wie bitte? – das gibt‘s doch gar nicht! – das kann doch
nicht wahr sein!“ Der Schmerz offensichtlicher Ungerechtigkeit ist am ehesten
am Kopf zu fassen, doch die Haare bieten nicht genügend Halt, die
Hände klatschen, bühnen-reif, auf die Schenkel. „Welche Sabine
meinen Sie denn?“ übertönt ein fester Schülermund in froher
Selbsttäuschung die wachsende Geräuschkulisse. Noch ist im Einzelnen
nichts geklärt, da fällt dramaturgisch günstig der klassische
Einwand: „Es gibt doch auch 15 Punkte!“ Keine Frage, dass der Lehrer zustimmen
muss. Geistesgegenwärtig kann er der aufkommenden Heiterkeit gerade
noch begegnen mit dem Hinweis auf 0 Punkte.
Die zweite Runde wird eingeläutet:
Differenzierung der Leistungsgruppen, Erleichterung und Empörung wechseln
einander ab. Nun fallen die Punkte wie reife Früchte aus des Lehrers
Mund. Stellvertreterkriege werden angezettelt. Die unverletzt Gebliebenen
schwenken weiße Fahnen, damit die Verletzten komfortabler gebettet
werden können. „So können Sie das aber nicht sagen!“ kommt es
schon schwächer zurück, wenn der Lehrer ins volle Schü-lerleben
greift. Die folgende Diskussion entfaltet muttersprachlichen Reichtum:
„Wenn G., dann R.; sowohl M. als auch H.; zwar nicht häufig, aber
doch; immer dann, wenn SIE, dann hat L.!“ Das komplizierte Punktgebäude
gerät ins Wanken. Die Einsichtigen wechseln die Fronten. Die letzte
Runde! Der Lehrer zeigt sich bei der Einordnung problematischer Fälle
versöhnlich: schwacher Glanz auf den Gesichtern der bereits Hoffnungslosen!
Da holen die Einzelkämpfer zum letzten unbekümmerten Schlag aus,
Spielart: Ich finde mich einfach besser! Aber der Lehrer rechnet schon.
Es gongt.
Rainer Denecke
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.©
2002 Sophienschule Hannover |