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Sehr
geehrter Herr Direktor, verehrtes Kollegium der Sophienschule, liebe Abiturientinnen
und Abiturienten!
Ich danke zunächst für
die Ehre, im Namen der Elternschaft hier reden zu können. Eine mögliche
Legitimation für diesen unverhofften Auftrag sehe ich darin, dass
ich sicher zu den ältesten der hier versammelten Väter gehöre.
Am Abend des Tages, an dem
meine Tochter erfahren hatte, wie des Schicksals Lose ihr mit Punkten und
numerus clausus gefallen waren, hat sie mich mitten in einem Abendessen,
das wir zur allgemeinen Stärkung auswärts einnahmen, gefragt:
„Wie war das eigentlich bei Deinem Abitur?“ Meine hysterische Befürchtung,
sie würde jetzt nach meinen Zensuren fragen, wurde freilich vorerst
beruhigt. Sie meinte die Frage ganz allgemein, sozusagen historisch. Sie
wollte wissen, wie das damals im Frühjahr 1949 gewesen sei, wenn man
Abitur machte.
Ich konnte mich genau erinnern:
Die letzte von drei halbstündigen mündlichen Prüfungen hatte
bis 13 Uhr gedauert. Um 13.30 Uhr wussten wir aus dem Munde unseres Direktors,
dass wir nun reif fürs Leben seien, zumindest für die Wissenschaft.
Als ich gegen 14 Uhr zu Hause die Küche betrat, waren dort meine Eltern,
meine Schwester und mein Schwager noch beim Mittagessen. Alle starrten
mich gespannt an. „Ich hab’s geschafft!“ sagte ich und nahm auf meinem
Stuhl Platz. Alle freuten sich natürlich und waren erleichtert. Man
gratulierte, und mein Vater holte sein Portemonnaie hervor, gab mir zehn
neue D-Mark, frisch aus der Notenpresse, und sagte: „Wir feiern das heute
Abend. Hol ein Kilo Thüringer Mett vom Schlachter und ein paar Flaschen
Bier.“ Meine Tochter sah mich nach dieser Erzählung aus grauer Vorzeit
etwas befremdet an und bemerkte mitfühlend: „Warst Du sehr enttäuscht?“
„Nein!“ sagte ich. Ein Kilo Thüringer Mett nach mindestens drei schweren
Hungerjahren im Krieg und in den ersten Jahren danach waren noch immer
ein Symbol für die Heilszeit und zehn Mark nach der Währungsreform
ein fürstliches Geld. Und was wog schon das Abitur, angesichts der
Tatsache, dass mein Bruder noch immer, im siebten Jahre jetzt, in russischer
Gefangenschaft war, und mein Schwager, ein Jahr zuvor aus dem Krieg als
körperliches Wrack zurück-gekehrt, noch immer keine Arbeit hatte
und mit 50 Pfennigen pro Tag auskommen musste? Es war schön, die Schule
endlich beendet zu haben. Aber die Fragen, wie man über die Runden
kommen würde, waren dringlicher und lebensentscheidender.
Dies ist keine Heldengeschichte,
um Ihnen heute ein schlechtes Gewissen zu machen und uns zu rühmen,
die wir Ihnen die Suppe gekocht und eingebrockt haben, die Sie fortan auslöffeln
müssen: die bitteren, aber auch die süßen Brocken. Sie
soll nur den zeitlichen Rahmen und die Geschichte in Erinnerung bringen,
in der wir heute dieses Abitur feiern. Wir, die wir hier sitzen, als Eltern,
Kinder oder Lehrer, gehören, wenn auch abgestuft und unterschiedlich,
je nach dem, wie das Glück oder die Beziehungen unsere Leistung zusätzlich
belohnten, – wir gehören zu den Kreisen, Familien und gesellschaftlichen
Schichten, in denen man nicht nur über die Runden gekommen ist, nicht
nur sich durchs Leben geschlagen hat. Materieller Wohlstand, ja Reichtum
sind bei vielen kein Traum der Hungerjahre mehr. Ich denke, Sie sind die
erste Generation, die nicht mehr auf die Verwaltung chronischer Mängel
fixiert ist, die aus der Fülle des Möglichen, des Vorhandenen,
des Erreichten und Geerbten schöpfen kann, wenn sie nur klug mit den
Gaben der Schöpfung und geschwisterlich mit den Nächsten umgeht.
Natürlich bin auch ich oft gefragt worden, ob ich noch einmal jung
sein möchte. Natürlich habe ich mit den üblichen Sprüchen
darauf reagiert: Ja, aber zumindest mit dem Taschengeld meiner Kinder usw.
Hinter den Flaps verbirgt sich die Unsicherheit meiner Gefühle. Wie
alle weiß ich, dass der Glitzer unserer Konsumwelt schnell stumpf
werden kann, weiß ich, dass gerade auf Sie viele Herausforderungen
und Schwierigkeiten zukommen werden. Der Blick auf den Arbeitsmarkt genügt.
Unser tägliches Fernsehen tut ein Übriges, uns mit Kriegsbildern
zu ernüchtern und zu ängstigen. Aber das kann ja auch anders
als mit Resignation oder Depression wahrgenommen werden: als eine gewaltige
Aufforderung, etwas zu unternehmen, die politischen und geistigen Ressourcen
einzusetzen, um Arbeit und Lebenschancen neu und gerecht zu verteilen,
mit Hilfe unseres Reichtums zu verhindern, dass unsere Gesellschaft in
Arme und Reiche auseinander bricht, sich dafür einzusetzen, dass unsere
Vorrechte zu Rechten aller werden. Wir haben Grund – und endlich auch die
Mittel – die geistige, ideelle Statik unseres eigenen Lebens, die soziale
Statik unserer Gesellschaft und die wirtschaftlichen und friedenspolitischen
Fundamente unserer Welt zu überdenken und neu zu vermessen. Da wartet
eine Menge Pionierarbeit auf Sie, um die ich Sie beneide, und ich kann
nur hoffen, dass Ihre Lehrer und dass vor allem wir Eltern nichts versäumt
haben, um Sie für diese Arbeit auch mit den nötigen vor
allem geistigen und moralischen
Mitteln und Qualifikationen auszurüsten. Aber
da kann ich Sie jetzt schon
mit dem Dichter bitten: „Ihr aber, wenn es so weit
sein wird, dass der Mensch
dem Menschen ein Helfer ist, gedenket unserer mit Nachsicht.“
Derselbe Dichter schildert
in einem wunderbaren Gedicht die Flucht des Laotse vor der Gewalt und der
Dummheit. An der Grenze trifft er mit seinem Schüler, einem Knaben
und einem Ochsen, der ihn trägt, auf einen wissbegierigen und die
Wahrheit suchenden armen Zöllner. Und das klingt so:
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Doch am vierten Tag im Felsgesteine
hat ein Zöllner ihm
den Weg verwehrt:
„Kostbarkeiten zu verzollen?“
– „Keine.“
Und der Knabe, der den Ochsen
führte,
sprach: „Er hat gelehrt.“
Und so war auch das erklärt.
Doch der Mann in einer heitren
Regung
fragte noch: „Hat er was
rausgekriegt?“
Sprach der Knabe: „Dass
das weiche Wasser in Bewegung
mit der Zeit den mächtigen
Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte
unterliegt.“ |
Ich wünsche Ihnen für
den weiteren Weg weiter gute Lehrerinnen und Lehrer, die Sie reich machen
mit Kostbarkeiten, die für den Zoll und den Steuerberater zwar nichts
wert sind, ohne die aber die Seele sterben muss und das Leben verödet.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie viel herauskriegen, aber ich hoffe, dass
nichts von dem das widerlegt, was der Knabe von dem alten Manne gelernt
hatte: Das Harte unterliegt.
Ich danke im Namen der Eltern
dem Kollegium dieser Schule für alles, was Sie getan haben, um unsere
Kinder den aufrechten Gang zu lehren und zu erhalten; das Wahre, das Gute
und das Schöne, die Freiheit und die Gerechtigkeit für die anderen
zu suchen und zu verteidigen. Die Musen mögen sie mit Ernst und Heiterkeit
weiter erfreuen und nähren. Gott segne dieses Haus.
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