REDE EINES VATERS 
214
_______________________________________________________________________________________________________________________
 
Rede eines Vaters zur Abiturfeier 1994
.
Sehr geehrter Herr Direktor, verehrtes Kollegium der Sophienschule, liebe Abiturientinnen und Abiturienten!

Ich danke zunächst für die Ehre, im Namen der Elternschaft hier reden zu können. Eine mögliche Legitimation für diesen unverhofften Auftrag sehe ich darin, dass ich sicher zu den ältesten der hier versammelten Väter gehöre.

Am Abend des Tages, an dem meine Tochter erfahren hatte, wie des Schicksals Lose ihr mit Punkten und numerus clausus gefallen waren, hat sie mich mitten in einem Abendessen, das wir zur allgemeinen Stärkung auswärts einnahmen, gefragt: „Wie war das eigentlich bei Deinem Abitur?“ Meine hysterische Befürchtung, sie würde jetzt nach meinen Zensuren fragen, wurde freilich vorerst beruhigt. Sie meinte die Frage ganz allgemein, sozusagen historisch. Sie wollte wissen, wie das damals im Frühjahr 1949 gewesen sei, wenn man Abitur machte.

Ich konnte mich genau erinnern: Die letzte von drei halbstündigen mündlichen Prüfungen hatte bis 13 Uhr gedauert. Um 13.30 Uhr wussten wir aus dem Munde unseres Direktors, dass wir nun reif fürs Leben seien, zumindest für die Wissenschaft. Als ich gegen 14 Uhr zu Hause die Küche betrat, waren dort meine Eltern, meine Schwester und mein Schwager noch beim Mittagessen. Alle starrten mich gespannt an. „Ich hab’s geschafft!“ sagte ich und nahm auf meinem Stuhl Platz. Alle freuten sich natürlich und waren erleichtert. Man gratulierte, und mein Vater holte sein Portemonnaie hervor, gab mir zehn neue D-Mark, frisch aus der Notenpresse, und sagte: „Wir feiern das heute Abend. Hol ein Kilo Thüringer Mett vom Schlachter und ein paar Flaschen Bier.“ Meine Tochter sah mich nach dieser Erzählung aus grauer Vorzeit etwas befremdet an und bemerkte mitfühlend: „Warst Du sehr enttäuscht?“ „Nein!“ sagte ich. Ein Kilo Thüringer Mett nach mindestens drei schweren Hungerjahren im Krieg und in den ersten Jahren danach waren noch immer ein Symbol für die Heilszeit und zehn Mark nach der Währungsreform ein fürstliches Geld. Und was wog schon das Abitur, angesichts der Tatsache, dass mein Bruder noch immer, im siebten Jahre jetzt, in russischer Gefangenschaft war, und mein Schwager, ein Jahr zuvor aus dem Krieg als körperliches Wrack zurück-gekehrt, noch immer keine Arbeit hatte und mit 50 Pfennigen pro Tag auskommen musste? Es war schön, die Schule endlich beendet zu haben. Aber die Fragen, wie man über die Runden kommen würde, waren dringlicher und lebensentscheidender.

Dies ist keine Heldengeschichte, um Ihnen heute ein schlechtes Gewissen zu machen und uns zu rühmen, die wir Ihnen die Suppe gekocht und eingebrockt haben, die Sie fortan auslöffeln müssen: die bitteren, aber auch die süßen Brocken. Sie soll nur den zeitlichen Rahmen und die Geschichte in Erinnerung bringen, in der wir heute dieses Abitur feiern. Wir, die wir hier sitzen, als Eltern, Kinder oder Lehrer, gehören, wenn auch abgestuft und unterschiedlich, je nach dem, wie das Glück oder die Beziehungen unsere Leistung zusätzlich belohnten, – wir gehören zu den Kreisen, Familien und gesellschaftlichen Schichten, in denen man nicht nur über die Runden gekommen ist, nicht nur sich durchs Leben geschlagen hat. Materieller Wohlstand, ja Reichtum sind bei vielen kein Traum der Hungerjahre mehr. Ich denke, Sie sind die erste Generation, die nicht mehr auf die Verwaltung chronischer Mängel fixiert ist, die aus der Fülle des Möglichen, des Vorhandenen, des Erreichten und Geerbten schöpfen kann, wenn sie nur klug mit den Gaben der Schöpfung und geschwisterlich mit den Nächsten umgeht. Natürlich bin auch ich oft gefragt worden, ob ich noch einmal jung sein möchte. Natürlich habe ich mit den üblichen Sprüchen darauf reagiert: Ja, aber zumindest mit dem Taschengeld meiner Kinder usw. Hinter den Flaps verbirgt sich die Unsicherheit meiner Gefühle. Wie alle weiß ich, dass der Glitzer unserer Konsumwelt schnell stumpf werden kann, weiß ich, dass gerade auf Sie viele Herausforderungen und Schwierigkeiten zukommen werden. Der Blick auf den Arbeitsmarkt genügt. Unser tägliches Fernsehen tut ein Übriges, uns mit Kriegsbildern zu ernüchtern und zu ängstigen. Aber das kann ja auch anders als mit Resignation oder Depression wahrgenommen werden: als eine gewaltige Aufforderung, etwas zu unternehmen, die politischen und geistigen Ressourcen einzusetzen, um Arbeit und Lebenschancen neu und gerecht zu verteilen, mit Hilfe unseres Reichtums zu verhindern, dass unsere Gesellschaft in Arme und Reiche auseinander bricht, sich dafür einzusetzen, dass unsere Vorrechte zu Rechten aller werden. Wir haben Grund – und endlich auch die Mittel – die geistige, ideelle Statik unseres eigenen Lebens, die soziale Statik unserer Gesellschaft und die wirtschaftlichen und friedenspolitischen Fundamente unserer Welt zu überdenken und neu zu vermessen. Da wartet eine Menge Pionierarbeit auf Sie, um die ich Sie beneide, und ich kann nur hoffen, dass Ihre Lehrer und dass vor allem wir Eltern nichts versäumt haben, um Sie für diese Arbeit auch mit den nötigen vor 
allem geistigen und moralischen Mitteln und Qualifikationen auszurüsten. Aber 
da kann ich Sie jetzt schon mit dem Dichter bitten: „Ihr aber, wenn es so weit 
sein wird, dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist, gedenket unserer mit Nachsicht.“

Derselbe Dichter schildert in einem wunderbaren Gedicht die Flucht des Laotse vor der Gewalt und der Dummheit. An der Grenze trifft er mit seinem Schüler, einem Knaben und einem Ochsen, der ihn trägt, auf einen wissbegierigen und die Wahrheit suchenden armen Zöllner. Und das klingt so:
 
Doch am vierten Tag im Felsgesteine
hat ein Zöllner ihm den Weg verwehrt:
„Kostbarkeiten zu verzollen?“ – „Keine.“
Und der Knabe, der den Ochsen führte,
sprach: „Er hat gelehrt.“
Und so war auch das erklärt.
Doch der Mann in einer heitren Regung
fragte noch: „Hat er was rausgekriegt?“
Sprach der Knabe: „Dass das weiche Wasser in Bewegung
mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt.“

Ich wünsche Ihnen für den weiteren Weg weiter gute Lehrerinnen und Lehrer, die Sie reich machen mit Kostbarkeiten, die für den Zoll und den Steuerberater zwar nichts wert sind, ohne die aber die Seele sterben muss und das Leben verödet. Ich wünsche Ihnen, dass Sie viel herauskriegen, aber ich hoffe, dass nichts von dem das widerlegt, was der Knabe von dem alten Manne gelernt hatte: Das Harte unterliegt.

Ich danke im Namen der Eltern dem Kollegium dieser Schule für alles, was Sie getan haben, um unsere Kinder den aufrechten Gang zu lehren und zu erhalten; das Wahre, das Gute und das Schöne, die Freiheit und die Gerechtigkeit für die anderen zu suchen und zu verteidigen. Die Musen mögen sie mit Ernst und Heiterkeit weiter erfreuen und nähren. Gott segne dieses Haus.

Wilhelm Fahlbusch

.

 

 

.© 2002 Sophienschule Hannover