Liebe
Abiturienten der Jahrgänge 1948 und 1998,
liebe
Schüler, Lehrer und Eltern!
„Das
Geheimnis des Glücks ist die Freiheit und das Geheimnis der Freiheit
der Mut.“
Dieser
Ausspruch des Perikles, des großen Athener Staatsmannes, ist über
2000 Jahre alt, aber noch so gültig wie damals. Und dieser Satz enthält
den Kern dessen, was Sie, der Abiturientenjahrgang 1948, schon erfahren
und bewiesen haben und was ich Ihnen, den Abiturienten des Jahrgangs 1998,
mit auf den weiteren Weg geben möchte.
Sie,
liebe AbiturientInnen, werden erwachsen, ob Ihnen das gefällt oder
nicht. Volljährig sind Sie ja schon seit einiger Zeit, aber jetzt
hat man Ihnen mit dem erfolgreichen Schulabschluss auch die Reife bescheinigt.
Die
schulische Erziehung ist beendet. Was heißt eigentlich Erziehung?
In einem demokratischen Land kann Erziehung meines Erachtens nur heißen:
Erziehung zur Freiheit!
Und
Freiheit blüht ja reichlich in unserem Land. Vor allem die wirtschaftliche
Freiheit, der Lebensstandard, aber auch die Reisefreiheit. Heute geht es
in frühen Jahren nach Amerika und Australien. Millionenfach Freiheit.
Und in jungen Jahren ein Auto. Freiheit.
Die
Möglichkeiten des Einzelnen, zu tun, was ihm beliebt, sind heute unbegrenzt.
Zuschauerplätze werden reichlich angeboten, nicht nur vor dem Fernseher.
Zuschauen kann man auch anderswo, sich bequem zurücklehnen, ein Bierchen
neben sich, Chips im Mund und schlaue Kommentare auf den Lippen – diese
Zuschauerplätze gibt es en masse. Und sich in der Straßenbahn
hinter der Zeitung zu verschanzen, ist allemal bequemer, als sich schützend
vor einen angepöbelten Ausländer zu stellen.
Aber
die Gesellschaft, soll sie nicht in die Knie gehen, braucht mehr die anderen
Menschen – die mit Rückgrat, Mut und aufrechtem Gang. Möglichkeiten
sind dazu da, verantwortungsvoll genutzt zu werden.
Fragen
wir uns:
Besteht
meine Freiheit in den tausendfältigen Möglichkeiten, zu tun,
was mir beliebt?
Besteht
meine Freiheit darin, dass jeder von uns sich zu allem Möglichen entscheiden
kann?
Oder
besteht meine Freiheit darin, dass ich mich für etwas ganz Bestimmtes
entscheide?
Die
Antwort ist klar: Eine Entscheidung ist der Ausschluss tausend-fältiger
Möglichkeiten zugunsten einer einzigen. Und eine Entschei-dung verdient
diesen Namen nur, wenn es eine definitive Entscheidung ist, wenn sie für
den verbindlich ist, der sie trifft.
Eltern
und Lehrer haben Sie immer wieder vor Entscheidungssituationen geführt,
haben Ihnen Werte nahe gebracht, Ihnen Liebens- und Verehrungswürdiges
gezeigt, bis Sie sich – aus eigener Überzeugung und in Freiheit –
für etwas Bestimmtes entschieden haben.
Mit
dem Abschluss der Schule stehen Sie vor vielen Entscheidungen, mit denen
Sie die Weichen Ihres Lebens stellen. Machen Sie von der Freiheit Gebrauch,
damit Sie die Freiheit als Glück erfahren.
Sich
nicht nur bequem zurückzulehnen, sondern wirklich bis an die Grenzen
seiner Möglichkeiten zu gehen, dazu gehört dann auch Mut. Goethe
– er darf in keiner deutschen Abiturrede fehlen – lässt in seinem
Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ unter dem Datum des 1. Juli
1771 seinen Helden schreiben: „Niemand weiß, wieweit seine Kräfte
gehen, bis er sie versucht hat.“ Machen Sie mutig den Versuch. Fassen Sie
dabei die großen, die langfristigen Entwicklungen ins Auge. Und lassen
Sie sich von dem Ziel, das Sie sich selbst gesetzt haben, nicht abbringen.
Wer den Zeitgeist heiratet, wird bald Witwer sein.
Was
dieses Land braucht, sind nicht nur Manager und Lehrer, sondern auch Leute
mit Visionen. Nichts Großes geschieht ohne einen Traum. Antoine de
Saint-Exupéry hatte schon als Junge den Wunsch zu fliegen. Er hat
sich diesen Traum erfüllt und ist Pilot geworden. Später schrieb
er in seinem Buch ‚Flug nach Arras‘: „Was der Mensch wert ist, hängt
davon ab, was er wird.“
Dass
Träume wahr werden, das gab und gibt es überall um uns herum.
Martin Luther King hatte einen Traum, Bill Gates hatte einen Traum, die
Menschen in Leipzig und Berlin hatten einen Traum. Doch lassen Sie uns
jetzt von Ihren Träumen sprechen. Heute, als frische Abiturienten,
erleben Sie einen Teil Ihres Traums. Aber das ist in vieler Hinsicht nur
der Anfang.
Nun
will ich Sie bitten, etwas zu tun. Nehmen Sie sich die Zeit, gleich jetzt.
Sie dürfen – zum ersten und zum letzten Mal in der Schule – sogar
die Augen schlies-
sen,
wenn Sie wollen, und träumen Sie von Ihrer Zukunft. Machen Sie sich
im Geist ein Bild, wo Sie sein möchten, was Sie tun möchten –
in 5 Jahren, 10 Jahren, 20 Jahren.
Halten
Sie diese Vision fest, und wenn Sie nach Hause kommen, schreiben Sie sie
auf ein Stück Papier und verwahren es gut. Wenn Sie am Ziel zweifeln
oder wenn der Mut Sie verlässt, nehmen Sie das Papier heraus und träumen
Sie Ihren Traum noch einmal.
Nehmen
Sie sich die Zeit, das zu tun, und die Chancen stehen gut, dass Ihr Traum
bald kein Traum mehr sein wird. Er wird Wirklichkeit werden, und Sie allein
– niemand sonst – werden ihn wahrgemacht haben.
Ich
möchte meine Ansprache ausnahmsweise nicht mit einem lateinischen
Zitat schließen. Viele halten Latein ohnehin für die späte
Rache der Römer an den Germanen.
„Partir
c’est toujours un peu mourir ...“
Abschied
nehmen ist immer ein wenig sterben ...
Nach
Jahren gemeinsamen Lernens, gemeinsamer Fortschritte und auch gemeinsamen
Kampfes gegen Trägheit und Unlust ist es nun so weit. Sie haben das
Abitur bestanden und nehmen nun Abschied von der Schule. Mit Ihnen möchte
ich der Schulleitung und den Lehrern, dem Hausmeisterpaar und den Schulassistenten
danken. Danken möchte ich aber auch Ihren Eltern und Sie, die AbiturientInnen,
ein letztes Mal um Verständnis bitten. Die Kritik von Eltern und Erziehern
hat Sie selbstbewusst gemacht. Deshalb fiel es Ihnen mit den Jahren immer
schwerer, diese Kritik zu ertragen, auch wenn sie gut gemeint war. Irgendwann
in den letzten Jahren haben Ihre Eltern aufgehört, Sie zu kritisieren
und zu bestrafen. Jetzt können und sollten Sie darauf verzichten,
Ihre Eltern zu kritisieren und zu bestrafen. Sie haben die Freiheit.
Als
Schulelternratsvorsitzender verabschiede ich mich von Ihnen und gratuliere
Ihnen im Namen aller Eltern:
Herzlichen
Glückwunsch zum heutigen Tag und alles Gute für die Zukunft!
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