ABITURIENTENENTLASSUNG 1998 
223
_______________________________________________________________________________________________________________________
 
Abiturientenentlassung 1998
.
Liebe Abiturienten der Jahrgänge 1948 und 1998,
liebe Schüler, Lehrer und Eltern!

„Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit und das Geheimnis der Freiheit der Mut.“

Dieser Ausspruch des Perikles, des großen Athener Staatsmannes, ist über 2000 Jahre alt, aber noch so gültig wie damals. Und dieser Satz enthält den Kern dessen, was Sie, der Abiturientenjahrgang 1948, schon erfahren und bewiesen haben und was ich Ihnen, den Abiturienten des Jahrgangs 1998, mit auf den weiteren Weg geben möchte.

Sie, liebe AbiturientInnen, werden erwachsen, ob Ihnen das gefällt oder nicht. Volljährig sind Sie ja schon seit einiger Zeit, aber jetzt hat man Ihnen mit dem erfolgreichen Schulabschluss auch die Reife bescheinigt.

Die schulische Erziehung ist beendet. Was heißt eigentlich Erziehung? In einem demokratischen Land kann Erziehung meines Erachtens nur heißen: Erziehung zur Freiheit!

Und Freiheit blüht ja reichlich in unserem Land. Vor allem die wirtschaftliche Freiheit, der Lebensstandard, aber auch die Reisefreiheit. Heute geht es in frühen Jahren nach Amerika und Australien. Millionenfach Freiheit. Und in jungen Jahren ein Auto. Freiheit.

Die Möglichkeiten des Einzelnen, zu tun, was ihm beliebt, sind heute unbegrenzt. Zuschauerplätze werden reichlich angeboten, nicht nur vor dem Fernseher. Zuschauen kann man auch anderswo, sich bequem zurücklehnen, ein Bierchen neben sich, Chips im Mund und schlaue Kommentare auf den Lippen – diese Zuschauerplätze gibt es en masse. Und sich in der Straßenbahn hinter der Zeitung zu verschanzen, ist allemal bequemer, als sich schützend vor einen angepöbelten Ausländer zu stellen.

Aber die Gesellschaft, soll sie nicht in die Knie gehen, braucht mehr die anderen Menschen – die mit Rückgrat, Mut und aufrechtem Gang. Möglichkeiten sind dazu da, verantwortungsvoll genutzt zu werden.

Fragen wir uns:
Besteht meine Freiheit in den tausendfältigen Möglichkeiten, zu tun, was mir beliebt?
Besteht meine Freiheit darin, dass jeder von uns sich zu allem Möglichen entscheiden kann?
Oder besteht meine Freiheit darin, dass ich mich für etwas ganz Bestimmtes entscheide?

Die Antwort ist klar: Eine Entscheidung ist der Ausschluss tausend-fältiger Möglichkeiten zugunsten einer einzigen. Und eine Entschei-dung verdient diesen Namen nur, wenn es eine definitive Entscheidung ist, wenn sie für den verbindlich ist, der sie trifft.

Eltern und Lehrer haben Sie immer wieder vor Entscheidungssituationen geführt, haben Ihnen Werte nahe gebracht, Ihnen Liebens- und Verehrungswürdiges gezeigt, bis Sie sich – aus eigener Überzeugung und in Freiheit – für etwas Bestimmtes entschieden haben.

Mit dem Abschluss der Schule stehen Sie vor vielen Entscheidungen, mit denen Sie die Weichen Ihres Lebens stellen. Machen Sie von der Freiheit Gebrauch, damit Sie die Freiheit als Glück erfahren.

Sich nicht nur bequem zurückzulehnen, sondern wirklich bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten zu gehen, dazu gehört dann auch Mut. Goethe – er darf in keiner deutschen Abiturrede fehlen – lässt in seinem Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ unter dem Datum des 1. Juli 1771 seinen Helden schreiben: „Niemand weiß, wieweit seine Kräfte gehen, bis er sie versucht hat.“ Machen Sie mutig den Versuch. Fassen Sie dabei die großen, die langfristigen Entwicklungen ins Auge. Und lassen Sie sich von dem Ziel, das Sie sich selbst gesetzt haben, nicht abbringen. Wer den Zeitgeist heiratet, wird bald Witwer sein.

Was dieses Land braucht, sind nicht nur Manager und Lehrer, sondern auch Leute mit Visionen. Nichts Großes geschieht ohne einen Traum. Antoine de Saint-Exupéry hatte schon als Junge den Wunsch zu fliegen. Er hat sich diesen Traum erfüllt und ist Pilot geworden. Später schrieb er in seinem Buch ‚Flug nach Arras‘: „Was der Mensch wert ist, hängt davon ab, was er wird.“

Dass Träume wahr werden, das gab und gibt es überall um uns herum. Martin Luther King hatte einen Traum, Bill Gates hatte einen Traum, die Menschen in Leipzig und Berlin hatten einen Traum. Doch lassen Sie uns jetzt von Ihren Träumen sprechen. Heute, als frische Abiturienten, erleben Sie einen Teil Ihres Traums. Aber das ist in vieler Hinsicht nur der Anfang.

Nun will ich Sie bitten, etwas zu tun. Nehmen Sie sich die Zeit, gleich jetzt. Sie dürfen – zum ersten und zum letzten Mal in der Schule – sogar die Augen schlies-
sen, wenn Sie wollen, und träumen Sie von Ihrer Zukunft. Machen Sie sich im Geist ein Bild, wo Sie sein möchten, was Sie tun möchten – in 5 Jahren, 10 Jahren, 20 Jahren.

Halten Sie diese Vision fest, und wenn Sie nach Hause kommen, schreiben Sie sie auf ein Stück Papier und verwahren es gut. Wenn Sie am Ziel zweifeln oder wenn der Mut Sie verlässt, nehmen Sie das Papier heraus und träumen Sie Ihren Traum noch einmal.

Nehmen Sie sich die Zeit, das zu tun, und die Chancen stehen gut, dass Ihr Traum bald kein Traum mehr sein wird. Er wird Wirklichkeit werden, und Sie allein – niemand sonst – werden ihn wahrgemacht haben.

Ich möchte meine Ansprache ausnahmsweise nicht mit einem lateinischen Zitat schließen. Viele halten Latein ohnehin für die späte Rache der Römer an den Germanen.

„Partir c’est toujours un peu mourir ...“
Abschied nehmen ist immer ein wenig sterben ...

Nach Jahren gemeinsamen Lernens, gemeinsamer Fortschritte und auch gemeinsamen Kampfes gegen Trägheit und Unlust ist es nun so weit. Sie haben das Abitur bestanden und nehmen nun Abschied von der Schule. Mit Ihnen möchte ich der Schulleitung und den Lehrern, dem Hausmeisterpaar und den Schulassistenten danken. Danken möchte ich aber auch Ihren Eltern und Sie, die AbiturientInnen, ein letztes Mal um Verständnis bitten. Die Kritik von Eltern und Erziehern hat Sie selbstbewusst gemacht. Deshalb fiel es Ihnen mit den Jahren immer schwerer, diese Kritik zu ertragen, auch wenn sie gut gemeint war. Irgendwann in den letzten Jahren haben Ihre Eltern aufgehört, Sie zu kritisieren und zu bestrafen. Jetzt können und sollten Sie darauf verzichten, Ihre Eltern zu kritisieren und zu bestrafen. Sie haben die Freiheit.

Als Schulelternratsvorsitzender verabschiede ich mich von Ihnen und gratuliere Ihnen im Namen aller Eltern:

Herzlichen Glückwunsch zum heutigen Tag und alles Gute für die Zukunft!

Wolf-Rüdiger Reinicke

.

 
 

 

.© 2002 Sophienschule Hannover