Erstmals
im 2. Halbjahr des Schuljahrs 1998/99 mussten sich die Schülerinnen
und Schüler der Leistungskurse im 12. Jahrgang einer neuen Herausforderung
stellen: der Anfertigung einer schriftlichen Hausarbeit innerhalb eines
Zeitraums von sechs Wochen.
Bereits
im Vorfeld waren Proteste bei Lehrern, Schülern und Eltern laut geworden;
nach den ersten Erfahrungen im Lande haben sich die Wogen aber wieder weitgehend
geglättet.
Was
hat es mit dieser Arbeit auf sich?
So
neuartig sie auch erscheinen mag, hat sie doch eine lange Geschichte und
ist in weiten Teilen der Republik eine seit vielen Jahren bekannte und
feste Einrichtung. Bereits 1972 wurde sie in der KMK-Vereinbarung zur Neugestaltung
der Oberstufe als mögliche Leistungsform verankert, die Umsetzung
der Kulturhoheit der Länder überlassen. In Bayern wurde sie obligatorisch,
in anderen Bundesländern (etwa Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg
und Schleswig-Holstein) fakultativ eingeführt. Auch in Niedersachsen
war in den 70er Jahren die „Jahresarbeit“ eine selbstverständliche
Leistungsform in der Oberstufe. Die neuen Bundesländer brachten aus
der DDR-Tradition, schriftliche „Projektberichte“ anfertigen zu lassen,
eigene Erfahrungen mit längeren, selbstständig erarbeiteten Schülerleistungen
ein.
Bei
den KMK-Konferenzen 1996 und 1997 wurden, auf der Basis von Empfehlungen
einer Expertenkommission, Konkretisierungen zur Weiterentwicklung der Prinzipien
der gymnasialen Oberstufe beschlossen, denen Niedersachsen mit der per
Erlass vom Mai 1997 verbindlich eingeführten Facharbeit nachkam.
Man
muss diesen Schritt sicher auch im Zusammenhang mit den seit Jahren vorgetragenen
und hinlänglich untermauerten Klagen der Hochschulen und Universitäten
sehen, den Abiturienten mangele es an Studierfähigkeit. Diese Studierfähigkeit
wurde auf drei so genannten Kompetenzfeldern wie folgt definiert:
– sicherer
Umgang mit mathematischen Symbolen und Modellen
–
verständiges Lesen und Verarbeiten komplexer fremdsprachlicher Sachtexte
–
muttersprachliche Ausdrucksfähigkeit, insbesondere in der schriftlichen
Darlegung eines konzisen Gedankenganges
Dem entspricht die durchgehende
Belegungspflicht für Deutsch, Mathematik und Fremdsprache. In einem
von der Schule festgelegten Kurshalbjahr und einer bestimmten Leiste ist
die Facharbeit innerhalb von 6 Wochen anzufertigen (in Bayern gelten übrigens
12 Wochen, ein Zeitraum, der nach Aussage bayrischer Lehrkräfte mit
Billigung der Behörden oftmals auf 6 Monate ausgedehnt wird!). In
dem Semester, in dem die Facharbeit geschrieben wird, tritt diese an die
Stelle der sonst zu schreibenden 2 Klausuren des betreffenden Leistungskurses,
sie hat sich auf den Unterrichtsgegenstand des betreffenden Kurshalbjahres
zu beziehen und geht als schriftliche Leistung in die Gesamtbewertung der
Schülerleistung dieses Halbjahres ein.
Ihre Zielsetzung ist bereits
angedeutet worden: eine Trias aus allgemeiner Studierfähigkeit, vertiefter
Allgemeinbildung und Wissenschaftspropädeutik. Dabei meint Letzteres,
durch selbstständiges und selbstverantwortetes Lernen und Arbeiten
Einblicke in wissenschaftliche Denk- und Arbeitsweisen zu gewinnen, ohne
selbst wissenschaftlich zu arbeiten.
Daher soll der Leistungskurs
in der gymnasialen Oberstufe (und im Fachgymnasium) auf besondere Weise
der Studienvorbereitung dienen und in wissenschaftliche Methoden, Reflexionen
und Fragestellungen einführen, indem er sich auf eine systema-tische
Beschäftigung mit wesentlichen Inhalten, Methoden, Theorien und Modellen
des Faches richtet.
Die Arbeit kann als Einzelarbeit
oder Gruppenarbeit (bei maximal drei Autoren) angefertigt werden, sie unterliegt
bestimmten Formvorschriften bezüglich der äus-seren Gestalt und
des Umfangs (die Einzelarbeit soll 15 Seiten Maschinentext exclusive Anhang
und Materialien nicht überschreiten), sie ist durch die Lehrkraft
zu betreuen, während der Erstellung zu begleiten und der Lerngruppe
in einem gesondert zu beurteilenden Leistungsteil zu präsentieren.
Im Übrigen besitzen
die jeweiligen Fachkonferenzen die Kompetenz, über weiter gehende
Bestimmungen und Festlegungen, etwa zur Themenfindung, Beschlüsse
zu fassen.
In unserer Schule waren im
letzten Schuljahr die Leistungskurse der Fächer Mathematik, Englisch,
Politik, Geschichte und Musik betroffen. Für alle Beteiligten, Schüler
wie Lehrer, war es ein spannendes Unternehmen, im positiven wie im negativen
Sinne. Zieht man Bilanz, und der Unterzeichner tut dies auch vor dem Hintergrund
seiner Kontakte zu anderen Gymnasien, fällt diese insgesamt wohl eher
positiv aus: Unsere Schülerinnen und Schüler haben sich der neuen
Herausforderung mit Mut, Engagement und Fleiß gestellt und wesentliche
Einblicke in wissenschaftliches Denken und Handeln erhalten. Der Grad der
Selbstständigkeit, zu dem sie im Einzelnen in der Lage waren, hat
oftmals erstaunt, die Ergebnisse ließen sich sehen und stellten im
Schnitt sogar eine leichte Verbesserung der zuvor in Klausuren erzielten
schriftlichen Leistungen dar, auch wenn es nicht zu signifikanten Abweichungen
kam. Die betreuenden Lehrkräfte stellten sich, nicht ohne Bauchschmerzen,
dem Neuen und konnten im Rückblick einen Gewinn für alle Seiten
feststellen.
Wie kann das Thema einer
Facharbeit lauten? Hier einige Beispiele:
Geschichte (Sophienschule)
– Die Widerstandsgruppe um
Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen
– Die Berliner Rote Kapelle
– Die Geschichte der NSDAP
in Hannover von 1921 bis 1933
– Der Vertrag über die
deutsch-französische Zusammenarbeit 1963 im Spiegel der
Presse und
im Meinungsbild der Öffentlichkeit
Deutsch (Lutherschule)
– Goethes XV. Römische
Elegie
– Rom bei Nacht, ein inhaltlicher
und formaler Vergleich der Gedichte „Das
Unverlierbare“
von M. L. Kaschnitz und „Römisches Nachtbild“ von I. Bachmann
– Zeiten und Orte in I. Bachmanns
Stadtportrait „Was ich in Rom sah und hörte“
Gegen Ende des Jahres 1999
werden landesweit alle Erfahrungen mit der Facharbeit gesammelt und ausgewertet,
um daraus Empfehlungen und Handreichungen für die Zukunft ableiten
zu können. Eines steht bereits fest: Erfolgreich kann die Facharbeit
nur absolviert werden, wenn im Jahrgang 11 entscheidende Vorarbeiten geleistet
werden, z.B. durch Kennenlernen der Arbeit mit und in Bibliotheken und
der Erarbeitung, Festigung und Absicherung der Zitiertechniken. Dem Fach
Deutsch kommt dabei eine Schlüsselposition zu.
Dieser Überblick soll
nicht schließen, ohne auf drei Problembereiche verwiesen zu haben:
– Die betreuenden Lehrkräfte
unterliegen einer hohen Belastung und Mehrarbeit,
wollen sie
verantwortungsbewusst und sachkompetent die Arbeit der
Schülerinnen
und Schüler mit der Literatur überprüfen und beurteilen;
sie geraten
zudem an ihre
physischen Grenzen, wenn sie neben der Betreuung der
Facharbeiten
noch mit Klausuren in einem anderen Jahrgang belastet sind.
– Die Kursteilnehmer neigen
dazu, während des 6-Wochen-Zeitraums den Einsatz
in den übrigen
Fächern so stark zu reduzieren, dass darunter der Unterricht in
dem anderen
Leistungskurs und den übrigen Grundkursen erheblich leidet.
– Die Facharbeit wird sich
– und darauf deuten erste und ernsthafte Hinweise – zu
einem Markt
im Internet entwickeln. Im Laufe der Jahre entsteht ein Pool von
Themen, die
wegen ihrer Fachrelevanz wiederholter Bearbeitung unterzogen
werden. Deshalb
wird der Überprüfung der Autorenschaft in Form von
Fachcolloquia
unter Heranziehung einer weiteren Lehrkraft gesteigerte
Bedeutung zukommen.
Auch in Zukunft sollten alle
Beteiligten die Facharbeit als Herausforderung verstehen, die mit Chancen
und Risiken gleichermaßen behaftet ist. Aus unseren Erfahrungen wird
der weitere Umgang mit ihr resultieren.
Detlev Quaas
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